Die Verteilung der Emissionen
In welchem Ausmass Industrienationen und Entwicklungsländer in den nächsten Jahrzehnten noch auf kostengünstige klimaschädliche Technologien setzen dürfen, wird weltweit kontrovers diskutiert. Klimaphysiker der ETH Zürich liefern der Politik wichtige Entscheidungsgrundlagen.
Reto Knutti ist ein gefragter Experte, wenn es um Klimaprognosen geht. Der ETH-Professor für Klimaphysik zeigte vor Jahren auf, dass das Treibhausgas CO2 das Klima nicht nur kurzfristig, sondern w?hrend vieler Jahrhunderte beeinflusst. Und er war an der Entwicklung von Computermodellen beteiligt, mit denen sich Klimaver?nderungen simulieren und in die Zukunft projizieren lassen.
Doch ihn interessiert nicht nur die Suche nach immer umfassenderen, genaueren und zuverl?ssigeren Klimamodellen, sondern vor allem auch die gesellschaftliche Dimension der Klimaerw?rmung. Wie ist das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen, auf das sich die internationale Staatengemeinschaft fest-gelegt hat? Welche Mengen an Treibhausgasen dürfen wir weltweit noch emittieren? Und wie l?sst sich dieser ?Emissionskuchen? weltweit gerecht verteilen? Mit Hilfe von Klimamodellen untersucht Knutti die verschiedenen Handlungsoptionen.
Rückw?rts rechnen
Die Gr?sse des Emissionskuchens beispielsweise sei nicht ganz einfach zu bestimmen, sagt er. Denn grunds?tzlich funktionieren die Klimamodelle – wie die meisten wissenschaftlichen Computermodelle – so, dass sie aus Ursachen Auswirkungen errechnen. Das Klimamodell ist vereinfacht gesagt eine Rechenmaschine, das unter anderem mit Bev?lkerungszahlen, verwendeten Technologien und den damit verbundenen Treibhausgasemissionen gefüttert wird und aufgrund dieser Angaben die zu erwartende Temperatur und Niederschlagsmenge liefert. Die Frage nach der maximalen Menge an Treibhausgasen, die die Menschheit ausstossen darf, um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen, führt in die Gegenrichtung: Sie m?chte aus den maximal tolerierten Auswirkungen auf die Ursachen und Entscheidungen zurückschliessen.
Knutti vergleicht die Aufgabe mit der Rekonstruktion eines Flugzeugabsturzes. ?Aus einem Feld verstreuter Flugzeugtrümmerteile die Absturzursache zu eruieren, ist extrem schwierig?, sagt er. ?Physikalisch viel einfacher ist es in umgekehrter Richtung, bei einem Flugzeug, das im Flug ein Triebwerk verliert, die Flugbahn der einzelnen Flugzeugteile zu berechnen.?
Weder bei einem Flugzeugabsturz noch bei der Klimamodellierung ist es m?glich, die Rechenmaschine rückw?rts laufen lassen. Die Wissenschaftler behelfen sich daher mit Fleissarbeit und Rechenpower.
So lassen sie ihre Rechnungsmaschine – den Hochgeschwindigkeitsrechner Brutus an der ETH Zürich – 10'000-mal vorw?rts laufen und rechnen verschiedene Emissionsszenarien durch. Unter den zehntausend Ergebnissen w?hlen sie jene aus, die dem Zwei-Grad-Ziel entsprechen. Und ausgehend von diesen k?nnen sie bestimmen, wie gross der Emissionskuchen ist. Eine von Experten oft genannte Zahl zur Gr?sse dieses Kuchens ist eine Billion Tonnen Kohlenstoff?quivalente. Das ist die Menge, die grob gesch?tzt 42'000 Kohlekraftwerke von der Leistung des Kernkraftwerks G?sgen in zehn Jahren ausstossen.
?Es kommt jedoch stark darauf an, wie sicher man sich sein will?, sagt Knutti. Die Billion Tonnen Kohlenstoff?quivalente gelten, wenn man das Zwei-Grad-Ziel mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln erreichen m?chte. Wollte man eine h?here Sicherheit anstreben, müssten die Emissionen sehr viel st?rker einschr?nkt werden.
Westeuropa muss sich einschr?nken
Zusammen mit seinem Postdoc Joeri Rogelj und der Zürcher Beratungsfirma Infras hat er letztes Jahr verschiedene politische Vorschl?ge zur Lastenverteilung verglichen. Aus der Studie wird klar, dass das Zwei-Grad-Ziel nur zu erreichen ist, wenn die Industriel?nder ihre Treibhausgasemissionen sehr viel st?rker reduzieren, als dies die Entwicklungsl?nder kurzfristig k?nnen: Westeuropa beispielsweise muss seine Emissionen in allen untersuchten Szenarien bis 2050 mindestens auf ein Fünftel kappen.
Darüber hinaus unterscheiden sich die untersuchten Vorschl?ge aber stark. Wollte man die Treibhausgasemissionen für die Zeit von 1990 bis 2100 weltweit pro Kopf gleichm?ssig verteilen, dürften die Entwicklungsl?nder bis etwa 2050 weiterhin auf sehr hohem Niveau Treibhausgase emittieren. Die Industriel?nder müssten hingegen – in einem unrealistisch anmutendem Tempo – bis zum Jahr 2035 zu CO2-neutralen Gesellschaften werden und ab dann für den Rest des Jahrhunderts gar eine negative CO2-Bilanz aufweisen. M?glich w?re dies nur mit massivem Einsatz von CO2-abscheidenden und -speichernden Technologien (Carbon Capture and Storage, CCS), die zurzeit jedoch noch nicht praxisreif sind. Alternativ müssten die Industriel?nder den Entwicklungsl?ndern Emissionsrechte abkaufen.
Die indische Regierung stellte 2008 einen Kompromissvorschlag vor, der die historische Verantwortung der Industriel?nder und deren wirtschaftliche Potenz berücksichtigt, jedoch nicht so radikal ist wie der Pro-Kopf-Vorschlag. In ihrer Studie zeigen die ETH-Wissenschaftler, dass die Entwicklungsl?nder bei diesem Szenario nicht sofort handeln müssten, ab 2020 jedoch gleich entschieden agieren müssten wie die Industriel?nder.
Auch bei diesem Vorschlag ist die noch zu entwickelnde CSS-Technologie zentral, um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen, wie Rogelj in einer weiteren Studie gezeigt hat. Dies gilt insbesondere dann, wenn Elektrizit?t in Zukunft mit anderen Mitteln als mit der Atomkraft produziert wird. Und ausserdem müssen, um das Ziel zu erreichen, weltweit riesige Fl?chen mit Wald aufgeforstet werden.
Ungeachtet der Lastenaufteilung zeigen die Klimamodellrechnungen von Knutti und Rogelj, dass es zwar viele Szenarien gibt, das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen. Allen ist jedoch gemein, dass die Politik m?glichst bald und m?glichst entschieden handeln muss.
Der fünfte IPCC-Bericht
In diesem und im n?chsten Jahr wird der Weltklimarat IPPC einen neuen Sachstandsbericht zum Klimawandel ver?ffentlichen. Der Teilbericht zu den wissenschaftlichen Grundlagen wird Ende September 2013 publiziert. Unter den Autoren sind Forschende der ETH Zürich prominent vertreten. Reto Knutti, Professor für Klimaphysik, verantwortet als so genannter Coordinating Lead Author das Kapitel zu Langzeitprognosen. Ausserdem sind am Teilbericht die ETH-Professoren und -professorinnen Jürg Beer, Ulrike Lohmann, Christoph Sch?r, Konrad Steffen und Martin Wild beteiligt (als so genannte Lead Authors).