Hintergründe der Kriminalität
Mehr Repression und Bestrafung führt nicht zwangsläufig zu weniger Kriminalität. Dies sagen Wissenschaftler um den ETH-Soziophysikprofessor Dirk Helbing. Sie haben die Entstehung von Kriminalität in einem Computermodell untersucht.
Auf der Erde wird gestohlen, betrogen und gemordet – schon seit Langem und noch immer. Kriminalit?t auszurotten, ist der Menschheit nie gelungen, obschon dies – wenn man der Theorie rationaler Entscheidungen der ?konomen glaubt – grunds?tzlich m?glich sein müsste. Diese Theorie besagt, dass Menschen dann kriminell werden, wenn es sich für sie lohnt. Zu stehlen oder Steuern zu hinterziehen beispielsweise lohnt sich dann, wenn der Nutzen aus der unrechtm?ssigen Bereicherung gr?sser ist als die erwarteten Kosten durch eine potenzielle Strafverfolgung. Wenn ein Staat die Strafen genügend hoch ansetzt und dafür sorgt, dass Gesetzesbrecher zur Rechenschaft gezogen werden, dann müsste es theoretisch m?glich sein, Kriminalit?t vollst?ndig auszumerzen.
Soweit die Theorie. Sie sei zu stark vereinfacht und greife zu kurz, sagt Dirk Helbing, Professor für Soziologie. So kennen etwa die USA teilweise viel drastischere Strafen als die europ?ischen L?nder. In einigen amerikanischen Bundesstaaten wird für Mord die Todesstrafe verh?ngt. Dennoch ist die Mordrate in den USA fünfmal h?her als in Westeuropa. Ausserdem sitzen in amerikanischen Gef?ngnissen zehnmal mehr Menschen als in vielen europ?ischen L?ndern. Mehr Repression k?nne unter Umst?nden sogar zu mehr Kriminalit?t führen, sagt Helbing. Seitdem die USA ihren ?war on terror? ausgerufen habe und ihn rund um den Globus führe, habe die Zahl der weltweiten Terroranschl?ge nicht etwa ab-, sondern zugenommen. ?Der klassische Ansatz, nach dem man Kriminelle nur st?rker verfolgen und bestrafen muss, wenn man die Kriminalit?t reduzieren will, funktioniert oft nicht.? Dennoch dominiere dieser Ansatz die ?ffentliche Diskussion.
Neues Modell n?her an der Realit?t
Um die Entstehung von Kriminalit?t genauer zu verstehen, entwickelte Helbing gemeinsam mit Wissenschaftskollegen ein neues, sogenannt agentenbasiertes Modell, in dem sie das Netzwerk sozialer Wechselwirkungen berücksichtigten. Das neue Modell bildet die Realit?t besser ab als bisherige Modelle. Es umfasst nicht nur Kriminelle und Gesetzeshüter, wie es viele bisherige Modelle tun, sondern auch ehrliche Bürger als dritte Gruppe. Parameter wie Strafmass und Strafverfolgungskosten k?nnen im Modell variiert werden. Ausserdem erfasst das Modell r?umliche Abh?ngigkeiten. Das heisst, die Vertreter der drei Gruppen interagieren nicht beliebig miteinander, sondern nur dann, wenn sie im Computermodell r?umlich und zeitlich aufeinandertreffen. Insbesondere ahmen die einzelnen Agenten das Verhalten von benachbarten Agenten anderer Gruppen nach, wenn dies erfolgsversprechend ist.
Zyklen der Kriminalit?t
Mit dem Modell konnten die Wissenschaftler zeigen, dass mehr Bestrafung nicht zwangsl?ufig zu weniger Kriminalit?t führt, und wenn doch, dann nimmt sie zumindest nicht in dem Mass ab, wie der Aufwand und die Kosten für die Bestrafung zunehmen. Ausserdem konnten die Forscher simulieren, wie Kriminalit?t pl?tzlich aufflammen und wieder verebben kann. ?hnlich dem in den Wirtschaftswissenschaften bekannten Schweinezyklus oder den in der ?kologie bekannten R?uber-Beute-Zyklen ist auch Kriminalit?t Zyklen unterworfen. Das Modell best?tigt damit Beobachtungen, wie sie etwa in den USA gemacht wurden: Nach dem Uniform Crime Reporting Program des FBI findet man in mehreren Bundesstaaten eine sich zyklisch ver?ndernde H?ufigkeit von Straftaten.
Das Modell liefert eine Erkl?rungsm?glichkeit für diese Schwankungen. Helbing konkretisiert das wie folgt: ?Wenn ein Staat die Investitionen in sein Strafverfolgungssystem so stark erh?ht, dass es nicht mehr kosteneffizient ist, wird der Ruf von Politikern laut, das Budget der Strafverfolgungsbeh?rden zu senken. Baut ein Staat in der Folge die Strafverfolgung ab, bleibt wieder mehr Raum für Kriminelle.?
?Viele Verbrechen haben einen sozio-?konomischen Hintergrund?
Wie, wenn nicht mit Repression, kann man denn die Kriminalit?t bek?mpfen? Das Hauptaugenmerk müsse auf dem sozio-?konomischen Kontext liegen, sagt Helbing. Wie aus der Milieutheorie in der Soziologie bekannt ist, ist das Umfeld für das Verhalten einzelner Menschen entscheidend. Die grosse Mehrzahl der kriminellen Handlungen habe einen sozialen Hintergrund, so Helbing. Wenn zum Beispiel ein Mensch den Eindruck gewinne, dass alle seine Freunde und Nachbarn den Staat austricksten, dann frage sich der Einzelne unweigerlich, ob er der letzte Ehrliche sein solle, der auf der Steuererkl?rung alle Einkünfte deklariere.
?Wenn man die Verbrechensrate senken m?chte, muss man die sozio-?konomischen Verh?ltnisse, unter denen die Menschen leben, im Auge behalten?, sagt Helbing. Dies dürfe man nicht mit Kuscheljustiz verwechseln. Doch die staatliche Antwort auf Kriminalit?t müsse differenziert ausfallen: Neben Polizei und Justiz seien auch die Volkswirtschafts- und Sozialbeh?rden gefragt – und jeder Einzelne, wenn es um die Integration von Anderen gehe. ?Indem man wirtschaftliche Verh?ltnisse verbessert und Menschen sozial integriert, kann man Kriminalit?t wahrscheinlich effektiver bek?mpfen als mit dem Bau neuer Gef?ngnisse.?
Literaturhinweis
Perc M, Donnay K, Helbing D: Understanding Recurrent Crime as System-Immanent Collective Behavior. PLoS ONE 8(10): e76063. doi: externe Seite 10.1371/journal.pone.0076063