Unantastbarer Wald – zeitgemässer Schutz?
Jede Sekunde geht in der Schweiz mehr als ein Quadratmeter Kulturland verloren – zehn Fussballfelder pro Tag. Oft handelt es sich um Fruchtfolgefl?chen. Angesichts der rasanten Zersiedelung dr?ngt sich die Frage auf, ob der restriktive Schutz des Waldes noch verh?ltnism?ssig ist.
Der Verlust an Kulturland geht ungebremst weiter. Im flachen Mittelland, in der Umgebung der Agglomerationen, betrifft dies meist wertvolles Ackerland. Der Wald hingegen ist heiliggesprochen. Er darf nicht angetastet werden, und dies obwohl die Waldfl?che in der Schweiz weiterhin zunimmt, um rund 4‘500 Hektaren pro Jahr [1], mehrheitlich in den Alpen. Die Waldfl?che im Mittelland bleibt ungef?hr stabil.
Erfolgreicher Waldschutz
Den Wald gesetzlich zu schützen war im Jahr 1876 das Gebot der Stunde. Damals drohte dem Wald Zerst?rung: Rodungen für Landwirtschaftsfl?chen, Holzschlag für Brenn- und Bauholz waren die Ursachen – Erosionen und ?berschwemmungen die Folgen. Etliche Gebiete, zum Beispiel in Italien, wurden unwiederbringlich gerodet und sind heute erodiert. Der vitale und wertvolle Schweizer Wald hingegen konnte in all seinen Funktionen gerettet werden. Das Forstpolizeigesetz ist ein erfolgreicher Zeuge einer frühen und weitsichtigen Umweltschutzpolitik.
Doch heute ist vieles anders: Der Brennholzverbrauch ist wesentlich kleiner, die Nachfrage nach Bauzonen hingegen ungleich gr?sser. Die Ausdehnung der Siedlungsr?ume erfolgt ausschliesslich auf Kulturland, wertvolle Fruchtfolgefl?chen gehen verloren.
Ich habe nicht die Absicht, das eine gegen das andere auszuspielen, sondern die heutige Gesetzgebung zu hinterfragen. Punktuell und unter bestimmten Umst?nden sollten Ausnahmen m?glich sein. Ausnahmen, die in einem Gesamtkonzept der Siedlungs- und Verkehrsentwicklung Sinn machen würden.
Projekt ?Waldstadt Bremer? als Beispiel
Der 636 Hektaren (ha) grosse Bremgartenwald liegt am Rand der Stadt Bern, zwischen dem L?nggassquartier und der Aare. Ein 43 ha grosser Streifen entlang dem urbanen Quartier wird durch die Autobahn A1 vom grossen Rest des Waldes abgeschnitten. Dieser Streifen ist verkehrstechnisch ideal erschlossen. Er schliesst auf seiner ganzen L?nge an das L?nggassquartier an, eines der am besten gelungenen Berner Stadtquartiere mit hoher Wohnqualit?t. Drei Buslinien erschliessen bereits heute das Areal, das 1.4 bis 2 Kilometer vom Hauptbahnhof Bern entfernt liegt. An dieser st?dtebaulich hervorragenden Lage ist eine Stadterweiterung in einer sonst kaum realisierbaren Gr?sse denkbar. Die ?Waldstadt? liegt raumplanerisch wesentlich günstiger als jede andere Alternative. Wird die Waldstadt nicht realisiert, so wird über kurz oder lang Brünnen Süd eingezont, eine Fruchtfolgefl?che gleicher Gr?sse rund sieben Kilometer westlich vom Bahnhof Bern.
Spannende st?dtebauliche Visionen
In der Waldstadt k?nnte Wohnraum für 6000 bis 8000 Bewohner erstellt werden. Aber nicht nur das! Die Uni Bern und die P?dagogische Hochschule Bern – beide in der L?nggasse einen Steinwurf von der Waldstadt entfernt gelegen – f?nden hier ihre Erweiterungsm?glichkeiten. Das gleiche gilt für die benachbarten Spit?ler Lindenhof und die Insel, das gr?sste Spitalzentrum der Schweiz. Kurz: die Waldstadt ?ffnet Raum für st?dtebauliche Visionen.
Ausnahmen im Waldgesetz?
Doch dazu müsste das nationale Waldgesetz neu interpretiert, vielleicht sogar ge?ndert werden. Eine Waldrodung ist heute n?mlich nur m?glich, wenn ?überwiegende Interessen? dafür geltend gemacht werden k?nnen. Das Projekt, für welches eine Rodung beansprucht wird, muss genau auf diesen Standort im Wald angewiesen sein. Doch diese Frage ist in Bern umstritten. Ein weiterer Einwand lautet, dass die Berner Waldstadt kein Pr?judiz für weitere, unkontrollierte Abholzungen werden dürfte.
Es stellt sich also die Grundsatzfrage, ob angesichts der rasanten Zersiedelung der restriktive Schutz des Waldes noch verh?ltnism?ssig und zeitgem?ss ist. Ich bin davon überzeugt, dass das Waldgesetz Ausnahmen zulassen sollte, wenn sich ein Standort als deutlich besser erweist als alle andern. Für den ?bergang in eine nachhaltige Entwicklung und für die langfristige Sicherung lebenswerter Siedlungen müssen wir ausgetretenen Pfade verlassen, Undenkbares denken, Unm?gliches wagen. So ist das Projekt der Waldstadt Bremer zu verstehen.
Weiterführende Informationen
[1] Erhebung des Landesforstinventars (LFI) durch die Eidgen?ssische Forschungsanstalt WSL; Bundesamt für Umwelt Bafu: externe Seite Gebiete mit zunehmender Waldfl?che