Effektives Lernen mit Wikibooks
Der Dozent Thomas Haslwanter motiviert seine Studierenden zum Verfassen von Wikibook-Beitr?gen als Leistungsausweis für seine Vorlesung. In sechs Jahren ist so ein 200-seitiges Kompendium zum Thema ?Sensorische Systeme? entstanden, das über das Internet frei zug?nglich ist.
Thomas Haslwanter hatte schon immer ein Faible für kompaktes Wissen: Nach dem Einreichen seiner Doktorarbeit an der ETH Zürich 1992 beschenkte er sich erst einmal mit einer umfassenden Enzyklop?die. Heute ist Haslwanter Professor für Medizintechnik an der FH Ober?sterreich und bietet als Privatdozent an der ETH die Vorlesung ?Computer Simulations of Sensory Systems? an. W?hrend eines Semesters lernen Masterstudierende aus Medizintechnik, Biologie und Neuroinformatik die physiologischen Eigenschaften von sensorischen Systemen, wie Augen, Ohren und Gleichgewicht kennen sowie Technologien verstehen, die solche Systeme nachbilden oder als Inspiration nutzen.
?Die Funktion sensorischer Systeme ist für die Forschung unglaublich interessant?, ist Haslwanter überzeugt. ?Doch das Wissen dazu ist in unz?hligen Büchern aus unterschiedlichen Disziplinen verstreut.? Diese Unzufriedenheit gepaart mit einem Faible für innovative Formen der Wissensvermittlung brachten ihn auf die Idee: Weshalb verfassen die Studierenden nicht gleich ihr eigenes Fachbuch zum Thema? Kollaborativ und über Internet – Wikibooks w?re die ideale Plattform dafür. Im Gegensatz zu Wikipedia sind Wikibooks keine enzyklop?dischen Sammlungen von Wissen, sondern abgeschlossene Textbücher zu einem spezifischen Thema. Layout und Funktionalit?t der beiden Plattformen sind jedoch nahezu identisch. Fortan bot Haslwanter den rund 20 Studierenden pro Semester an, alternativ zur Online-Prüfung Ende Semester einen Beitrag zu einem selbst gew?hlten Thema aus der Vorlesung zu verfassen und diesen im gemeinsamen Wikibook zu ver?ffentlichen.
Qualitatives Fachbuch für jedermann
22 Studierende haben sich seit dem Aufschalten des englischsprachigen Wikibooks externe Seite Sensory Systems – Biological Organisms, an Engineer`s Point of View vor sechs Jahren für eine solche Prüfungsform entschieden. In ausgedruckter Form umfasst das Werk mittlerweile 200 A4-Seiten. Unter Haupttiteln wie ?Visuelle Systeme?, ?Olfaktorische Systeme? und ?Sensorische Systeme bei Nicht-Primaten? finden sich eine Reihe von detaillierten Unterkategorien, welche einzelne Aspekte des Themas über Texte, Bilder, Grafiken, Programmiercodes und Referenzliteratur vertiefen. Zum Beispiel zum Cochlea-Implantat, einer H?rprothese für Geh?rlose, deren H?rnerv noch funktioniert.
Haslwanter war von Beginn an begeistert von der hohen Qualit?t der Wikibook-Beitr?ge: ?Die Studierenden entwickeln beim Schreiben oft ein starkes Interesse an ihrem Thema und stecken entsprechend viel Zeit in den Beitrag.? Auch auf Seite der Studierenden st?sst die alternative Prüfungsmethode auf Anklang – obschon die meisten keinen Hehl daraus machen, dass der Aufwand wesentlich gr?sser ist, als die Vorbereitung auf eine Online-Klausur. Doch die gezielte Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Literatur sei nachhaltiger, als das Pauken für eine Prüfung, sind viele Wikibook-Autoren überzeugt. Andere sch?tzen, dass ihr zusammengetragenes Wissen nicht in einer Schublade verschwindet, sondern auf dem Internet auch langfristig Interessierten zur Verfügung steht. Wieder andere entdecken schlicht ihre Freude am wissenschaftlichen Schreiben.
Ideale ?bungs-Plattform für Masterstudierende
Für Haslwanter haben die Wikibooks punkto Lernerfolg gleich mehrere Vorteile: ?Die Studierenden üben das wissenschaftliche Schreiben, den Umgang mit wissenschaftlicher Literatur und das Publizieren in einer allgemein verst?ndlichen Sprache.? Das sei gerade in Hinblick auf die Masterarbeit sehr wertvoll. Zudem lernten die Studierenden die Tücken des wissenschaftlichen Publizierens kennen. Zum Beispiel wie aufwendig es sein kann, an gute, erkl?rende Bilder ranzukommen, die nicht Copyright-geschützt und kostenpflichtig sind.
Auch bei der Abteilung Lehrentwicklung und -technologie (LET) der ETH Zürich begrüsst man den Einsatz von Wikibooks und stellt Dozierenden dafür eine eigene ETH-interne Plattform zur Verfügung. ?Wikibooks sind für die Lehre deshalb interessant, weil Studierende die Lernmaterialien jederzeit selbst?ndig erweitern k?nnen und die Inhalte unter einer freien Lizenz ver?ffentlicht werden?, sagt Andreas Reinhardt, Verantwortlicher für Innovationsmanagement beim LET.
?berdurchschnittlicher Aufwand für Dozierende
So vielversprechend Wikibooks für den Lernerfolg der Studierenden sind, so aufw?ndig sind sie für Dozenten. In Thomas Haslwanters Vorlesung melden sich durchschnittlich vier Studierende für einen Wikibook-Eintrag. ?Ich bin froh, dass es nicht mehr sind?, gesteht Haslwanter. Denn für Korrektur, Redigieren und Kürzen eines studentischen Beitrags von durchschnittlich zehn A4-Seiten braucht er je nach Thema und Qualit?t bis zu zwei Tagen. Er sch?tzt, dass der zeitliche Aufwand für den Dozenten rund dreimal so hoch ist wie bei einer herk?mmlichen Prüfung. ?Begeisterung für die Wissensvermittlung im eigenen Gebiet ist deshalb unbedingt n?tig?, betont Haslwanter. ?Denn für Wikibooks-Eintr?ge gibt es keine akademischen Lorbeeren.? Und er nennt noch eine weitere Bedingung für den erfolgreichen Einsatz von Wikibooks: ?Die Studierenden müssen über eine gute fachliche Basis, gewisse Vorkenntnisse im Forschungsbetrieb und ein gutes Niveau in Englisch verfügen. Das Sch?ne an der ETH ist, das diese Voraussetzungen meist gegeben sind.?