Natur-Wirkstoffe zerkleinern und verstehen

Antibiotika-resistente Keime, gefährliche Viren, Krebs: Ungelöste medizinische Probleme erfordern neue und bessere Arzneimittel. Inspiration für neue Wirkstoffe könnte aus der Natur kommen. Dabei hilft nun die computerbasierte Methode eines Forscherteams unter Beteiligung der ETH Zürich.

Vergr?sserte Ansicht: Artemisia annua und Strukturformel des Artemisinins
Die Natur birgt Wirkstoffe gegen eine Reihe medizinischer Probleme, zum Beispiel das Malaria-Medikament Artemsinin aus dem Beifussgew?chs Artemisia annua. (Foto: Keystone / Science Photo Library, Scott Bauer / Montage: ETH Zürich)

Die Medizin driftet auf ein grosses Problem zu: Es gibt immer mehr Bakterien, gegen die kein bekanntes Antibiotikum mehr hilft. ?rzte brauchen dringend neue Mittel gegen solche multi-resistenten Krankheitserreger. Um dem Problem zu begegnen, wendet sich die Pharmaforschung wieder der Quelle zu, aus der die meisten unserer Arzneimittel ursprünglich kommen: der Natur.

Es sind zwar Hunderttausende aus der Natur stammende Wirkstoffe bekannt, wie sie genau wirken, ist bei den meisten jedoch nicht klar. Ein Forscherteam unter Beteiligung der ETH Zürich hat nun eine computerbasierte Methode entwickelt, um den Wirkmechanismus solcher Naturstoffe vorherzusagen. Damit hoffen die Wissenschaftler auf neue Ideen, um Arzneistoffe zu generieren. ?Natürliche Wirkstoffe sind meist sehr grosse Moleküle, die man chemisch oft nur in langwierigen Prozessen synthetisieren kann?, sagt Gisbert Schneider, Professor für Computergestütztes Wirkstoffdesign am Institut für Pharmazeutische Wissenschaften der ETH Zürich. Wenn man verstehe, wie genau ein Naturstoff wirke, k?nne man kleinere, einfachere Moleküle entwerfen, die sich leichter synthetisieren lassen. Sobald ein Stoff chemisch synthetisierbar wird, l?sst er sich auch für den medizinischen Einsatz optimieren.

Um den Wirkmechanismus zu verstehen, untersuchen Forscher, mit welchen Bestandteilen eines Erregers der Naturstoff wechselwirkt, um beispielsweise sein Wachstum zu hemmen. Bisher dienten dazu aufw?ndige Laborversuche, und meistens erkannten die Wissenschaftler dabei nur den st?rksten Effekt eines Stoffs. Diese eine Wechselwirkung allein kann aber oft nicht die gesamte Wirkung eines Naturstoffs erkl?ren. ?Auch schw?chere Wechselwirkungen mit weiteren Zielstrukturen k?nnen zur Gesamtwirkung beitragen?, erkl?rt Schneider.

210'000 Naturstoffe analysiert

Mithilfe der computerbasierten Methode konnten die Forscher um Gisbert Schneider nun eine Vielzahl m?glicher Zielstrukturen von 210'000 bekannten Naturstoffen vorhersagen. Die Software arbeitet dabei mit einem Trick: Anstatt von der kompletten, oft komplexen chemischen Struktur der natürlichen Stoffe auszugehen, zerlegt sie diese in kleine Fragmente. Diese benutzt der Algorithmus als Grundlage, um chemische Datenbanken nach m?glichen Interaktionspartnern zu durchforsten.

Die Fragmente w?hlt der Algorithmus nicht zuf?llig, sondern nach dem Prinzip der sogenannten Retrosynthese. Das Konzept stammt aus der organischen Chemie: Wenn ein Chemiker eine Substanz synthetisieren will, überlegt er, über welche Zwischenmoleküle er ans Ziel kommt. ?Wir wollten die Moleküle in bedeutungsvolle Grundbausteine zerlegen?, erkl?rt Schneider. Daher errechnet die Software, aus welchen Einzelbausteinen sich die Substanz theoretisch synthetisieren liesse.

?Indem wir die teils grossen Moleküle am Computer in Einzelbausteine zerlegen, finden wir heraus, welche Bestandteile essentiell für die Wirkung sein k?nnten?, sagt Schneider. So liessen sich simplere Moleküle entwerfen, die Chemiker auch tats?chlich herstellen k?nnten, anstatt sie mühsam aus der natürlichen Quelle zu isolieren.

Gemeinsamkeiten entdeckt

Die Forschenden prüften ihre Methode im Detail an einem aus Myxobakterien stammenden Wirkstoff, der das Wachstum von Tumorzellen bremst: Archazolid A. Von dieser Substanz ist eine Zielstruktur bekannt. Es gibt jedoch Hinweise, dass auch die Interaktion mit weiteren Zellfaktoren eine Rolle für die Anti-Tumor-Wirkung spielen muss. Welche diese anderen Faktoren sind, konnten die Forschenden nun mithilfe der Software identifizieren und einige davon anschliessend in Laborversuchen best?tigen. Dabei stellten sie überraschend fest, dass die Wirkweise des Archazolid A derjenigen eines viel kleineren und einfacheren Moleküls ?hnelt, der Arachidons?ure, einer unges?ttigten Fetts?ure. ?Das Beispiel zeigt, dass sich eine gewünschte Wirkung oft auch mit einfacheren Substanzen erreichen l?sst?, sagt Schneider. Letztere k?nnten wiederum als Inspiration für neue Wirkstoffe dienen.

?Die Analyse ist noch nicht perfekt, einige der vorgeschlagenen Wechselwirkungen konnten wir in biochemischen Versuchen nicht best?tigen?, r?umt Schneider ein. Ziel sei es daher, die Vorhersagekraft der Software noch weiter zu optimieren. Aber schon jetzt reduziert sich mit Hilfe des Algorithmus die Zahl der m?glichen Kandidaten, mit denen eine Substanz interagieren k?nnte. Und damit den Aufwand für anschliessende Laborversuche, um die tats?chlichen Wechselwirkungen experimentell zu best?tigen. So wird es künftig leichter, den Wirkmechanismus natürlicher Substanzen zu entschlüsseln.

Um dieses computerbasierte Werkzeug zur grossfl?chigen Analyse von Naturstoffen zu entwickeln, brauchte es eine Bündelung von spezifischen Expertisen aus den Bereichen Chemie, Pharmazie, Biologie und Informatik, betont Schneider. Die ETH-Forschenden arbeiteten eng mit Wissenschaftlern der Friedrich-Schiller-Universit?t Jena, der Goethe-Universit?t Frankfurt und des Helmholtz Instituts für Pharmazeutische Forschung Saarland zusammen.

Literaturhinweis

Reker D et al.: Revealing the macromolecular targets of complex natural products. Nature Chemistry, Online-Publikation vom 2. November 2014, doi:externe Seite 10.1038/nchem.2095

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