Der letzte Anarchist der ETH
Vor 25 Jahren wurde Paul Feyerabend als Professor der ETH Zürich emeritiert. Er war ein Weltstar der Philosophie, der wichtige Grundsteine für die moderne Umweltforschung gelegt hat. Und er galt als Anarchist.
In seiner Einführungsvorlesung als Professor für Wissenschaftsphilosophie an der ETH Zürich argumentierte Paul Feyerabend [1], dass die Wissenschaft keinen verl?sslicheren Zugang zu sicherem Wissen habe als zum Beispiel die Kunst. Sein Hauptwerk ?Wider den Methodenzwang? kritisierte die Wissenschaften als dogmatisch, weil sie einer starren Methodik folgen würden und die Wahrheit für sich alleine beanspruchten. Die Wissenschaft sei laut, frech, und teuer. Als Kur empfahl er einen heiteren Anarchismus, inspiriert von den Dadaisten, und zusammengefasst in seinem berühmtesten Ausspruch ?Anything goes!?. Gemeint hat er, dass die Wissenschaften vom kreativen Spielen und Basteln mit allen verfügbaren Methoden und Ideen leben. In der Tat, gerade führende Forschungsgebiete wie Neurowissenschaften, synthetische Biologie oder Nanotechnologie profitieren von solcher Methodenvielfalt und dem ?Ausprobieren?.
Innovationen oder Verl?sslichkeit?
Obwohl Feyerabend also eigentlich nur den Forschungsalltag beschrieb, galt er als ?Lehrer geistiger Unverantwortlichkeit?. Wieso war seine Kritik am Methodenzwang so provozierend? Feyerabend hat einen empfindlichen Nerv der Universit?ten getroffen: das Versprechen, dass Forschung gleichzeitig innovativ und verl?sslich ist. Forschungsfreiheit erlaubt ins Neuland des noch v?llig Unbekannten vorzudringen. Ein Gebiet, welches von ?berraschungen und Unwissenheit gepr?gt ist. Aber Universit?ten sind auch Garanten von solidem Wissen. Sie bilden unsere Ingenieure und Mediziner aus, denen wir vertrauen, und sie beraten uns als Experten. Es stellt sich also die Frage, wie die Wissenschaft den t?glichen Spagat zwischen kreativem Wirrkopf und seri?sem Experten schafft. Der Vordenker der modernen Wissenschaften, Francis Bacon, hat auf diese Frage bereits um 1600 eine elegante und seither gültige Antwort gegeben: Wir k?nnen der experimentellen Methode vertrauen, die durch systematisches Testen von Hypothesen trotz kreativem Chaos unausweichlich zu nützlichem und verl?sslichem Wissen führt.
Hier hat sich Feyerabend seine ketzerische Frage erlaubt: Was wenn die wissenschaftliche Methode die Erwartungen an sie nicht immer erfüllen kann? Und er hat die Antwort gleich selber gegeben: Der seidene Faden, an welchem der soziale Vertrag zwischen Wissenschaft und Gesellschaft h?ngt – die Forschung erh?lt Geld, uneingeschr?nkte Freiheit, und niemand schw?tzt drein, und im Gegenzug erh?lt die Gesellschaft solides Wissen – w?re zerschnitten.
Das Ende von Bacons Traum?
Wer zu den grossen Zukunftsproblemen der Gesellschaft forscht, entkommt Feyerabend’s kritischer Frage nicht. Ob bei Risiken von Biotechnologie oder Vorhersagen zu Klimawandel, wir wollen immer schneller beides: Neues, aber auch gesichertes Wissen soll unsere dr?ngenden Probleme beseitigen. Der Spagat, den die wissenschaftliche Methode absichern sollte, wird immer gr?sser. Und gleichzeitig wird ihre Aufgabe immer schwieriger: Umweltprobleme lassen sich kaum durch kontrollierte, kurzfristige Experimente in abgeschlossenen Laborr?umen l?sen. Durch zunehmend striktere und aufw?ndigere Evaluationen versuchen Umweltwissenschaftler im Moment Francis Bacon’s Traum zu retten. Dank Evidenz-basierter Wissenschaft [2] oder Expertenkommissionen wie des Klimarats IPCC mit Beteiligung von Tausenden von Wissenschaftlern [3] soll die wissenschaftliche Methode fit bleiben für eine unübersichtliche Welt. Dies ist auch dringend n?tig, versuchen doch Interessensvertreter immer wieder, wissenschaftliche Fakten zu sabotieren [4]. Aber wird dies gelingen? Oder wird nur ein Dogmatismus gest?rkt, den Feyerabend als l?hmend für die Gesellschaft kritisiert hat?
Flucht nach vorn
Feyerabend h?tte eine radikale Alternative vorgeschlagen: Wenn die wissenschaftliche Methode kein Zauberstab ist, der blitzschnell zu allen neuen Fragen eine sichere Antwort findet, bleibt nur die Flucht nach vorne. Wir müssen den Prozess des kritischen Testens von Hypothesen auf das kaleidoskopische Stimmengewirr der Vielen ausweiten. Für Feyerabend war die kulturelle und damit wissenschaftliche Vielfalt unserer Gesellschaft die wertvollste Ressource, um dr?ngende Probleme zu verstehen und zu l?sen. Er glaubte, dass die Beteiligung von NGOs, Künstlern, politischen Parteien, Wirtschaftsvertretern, kulturellen Minderheiten, Geisteswissenschaftlern, und traditionellem Wissen den Forschungsbetrieb st?rkt.
Feyerabend hat an die Vielfalt geglaubt, und er ist nicht mehr alleine. Der IPBES – das IPCC für Biodiversit?t – versteht sich als Plattform für ?knowledge generated worldwide by governments, academia, scientific organizations, non-governmental organizations and indigenous communities? [5]. Im Auditorium Maximum der ETH wurde kürzlich eine Tagung zu Bürgerwissenschaften durchgeführt [6], und auch die eben lancierte Critical Thinking Initiative [7] hat das Ziel, die ETH-Studierenden zu lehren, in den vielen Sprachen der Gesellschaft zu denken.
Feyerabend stellt uns vor zwei Alternativen, um mit den komplexen Problemen unserer Zeit umzugehen: Rückzug in den akademischen Elfenbeinturm, wo rigorose Kontrolle der Forschungsprozesse m?glich bleibt, oder Vertrauen auf Vielfalt, kritisches Denken und eine Prise Anarchismus. Oder konkreter: In den letzten Jahren wurde die Finanzierung von Lehrstühlen durch private Firmen zum Teil stark kritisiert. Feyerabend h?tte m?glicherweise geantwortet: Das ist kein Problem, solange auch Greenpeace und die Zürcher Stadtbewohner bei der Identifizierung von Forschungsschwerpunkten und Besetzung von neuen Professuren beteiligt werden.
Weiterführende Informationen
[1]: externe Seite Kontext-Sendung zu Feyerabend auf SRF 2
[2]: Siehe externe Seite hier für Medizin und externe Seite hier für Naturschutz
[3]: Website des Weltklimarats: externe Seite IPCC
[4]: Naomi Oreskes und Erik M. Conway 2014. Die Machiavellis der Wissenschaft. Das Netzwerk des Leugnens. Wiley-VCH, Weinheim. ISBN 978-3-527-41211-2
[5]: Siehe Website des IPBES externe Seite hier. Siehe auch: Turnhout et al. 2012. Listen to the voices of experience. The intergovernmental body for biodiversity must draw on a much broader range of knowledge and stakeholders than the IPCC. Nature 488: 454-455. (externe Seite Pdf)
[6]: Citizen science Workshop an der ETH