Mehr Mobilität – immer mehr Verkehr?

Wie heisst es so sch?n: Fehler machen sei nicht so tragisch, so lange man sie nicht wiederholt. Es ist nat¨¹rlich oft Interpretationssache, was ein Fehler ist ¨C gerade in der Verkehrsplanung, wo seit Jahren ideologisch und emotional dar¨¹ber debattiert wird, wie dem permanent wachsenden Verkehrsaufkommen zu begegnen sei. Ich befasse mich in meiner Dissertation mit der Entwicklung des Verkehrsnetzes und Reisens in Europa vom Mittelalter bis heute. Und bei einigem, was Politiker, B¨¹rger und Medien heutzutage besch?ftigt, kommen mir unweigerlich D¨¦j¨¤-vus. Werfen wir also einen Blick in die Geschichte der Mobilit?t.

Der Raum als fr¨¹her Feind des Menschen

Fernand Braudel, der grosse franz?sische Historiker, beschrieb 1966 in seinem Standardwerk [1] das r?umlich beschr?nkte Leben der einfachen Bev?lkerung im ausgehenden Mittelalter. Der Alltag spielte sich an Ort und in Fussmarsch-Distanz ab. Man reiste selten, gef?hrlich und m¨¹hsam ¨C und sicher nicht zum Vergn¨¹gen. Die Verkehrsinfrastruktur war schlecht und beschr?nkte sich auf ehemalige r?mische Strassen, Handelspfade und gewisse schiffbare Flussabschnitte. Gemeinden waren oft isoliert, das Potenzial ?konomischer Entwicklung dementsprechend mager. Braudel nannte den Raum den Feind Nummer eins des Menschen, nicht Seuchen oder Krankheiten.

Distanzen ¨¹berwinden dank Fortschritt

Damals lebte die grosse Mehrheit in D?rfern und nicht in St?dten. Doch in letzteren wurden Technik und Wissen vorangetrieben. So f¨¹hrte genauere Messtechnik zu besseren Strassen, und dank Anbau im Dreizelgensystem stiegen die Ertr?ge von Nahrungs-und Futtermitteln f¨¹r Pferde. Die Reisegeschwindigkeit nahm zu. Quasi als Nebeneffekt erh?hte sich der Wohlstand der St?dte, was wiederum Leute anzog. Als Folge davon setzte ein reger Austausch zwischen Stadt und Umland einerseits (Nahrung, Arbeit, Handwerk) und zwischen verschiedenen St?dten anderseits ein. Er diente nicht nur dem Handel, sondern auch der Kommunikation. Erste Postunternehmen begannen neben Briefen auch Personen zu transportieren.

Kutschenstau und Pferdehufgeklapper in London

In der Neuzeit nahmen die Verbindungen zwischen St?dten f¨¹r Reisen zu Pferd oder gar Kutschen inflation?r zu. Viele St?dte wurden vom Verkehr regelrecht ¨¹berschwemmt, obwohl das Reisen immer noch etwas f¨¹r Privilegierte war. Die Londoner beklagten sich ¨¹ber das permanente und schlafraubende Pferdehufgeklapper und die gef?hrlichen Zust?nde in den Gassen der City. Also wurden die Verkehrswege verbreitert. Doch statt dass sich die Situation entsch?rfte, nahm der Strom an Pferden und Kutschen ¨C inklusive Tonnen an Mist ¨C nur noch zu. Es gab Zeiten, da getrauten sich feine Damen wochenlang gar nicht mehr vor die Haust¨¹re.

Nebeneffekt einer frisch mobilisierten Welt

Merkliche Besserung brachte erst die Eisenbahn nach 1800. Sie verk¨¹rzte nicht nur die Reisezeiten massiv, sie machte das Reisen f¨¹r die breiten Massen erschwinglich. Der internationale Waren- und Personentransport etablierte sich. Als 1844 die erste Eisenbahn der Schweiz aus dem Elsass in Basel einfuhr, sollen die Leute in heller Panik vor Rauch, Feuer und L?rm auf die Strassen gerannt sein. Das gleiche Jahr war aber auch in anderer Hinsicht wichtig. 1844 w¨¹tete die Kartoffelf?ule in Nordamerika. Nur wenige Monate sp?ter, im Juni 1845, tauchte diese Krankheit zum ersten Mal in Europa auf und zwar im heutigen Belgien. Die Sporen mussten mit einem Dampfschiff, dem Gegenst¨¹ck der Eisenbahn auf Wasser, ¨¹ber den Atlantik mitgereist sein. Anfang September war schon das komplette Westeuropa betroffen. Die Nebenwirkung einer erst gerade frisch mobil gewordenen Welt liess Millionen von Europ?erinnen und Europ?ern verhungern. (F¨¹r ein modernes ?Pendant? zur Kartoffelf?ule siehe [2]).

Von der Eisenbahn zur Autobahn

Etwas mehr als 100 Jahre sp?ter erfasste die Massenmotorisierung die Schweiz. Wer etwas auf sich hielt, besorgte sich ein Auto, und die Schweiz beschloss, das ganze Land mit einem Autobahnnetz zu erschliessen. Die Kantone realisierten eine Umfahrung nach der anderen, Baselland war da keine Ausnahme. 1970 er?ffnete die A2 quer durch den Kanton, nur ein paar Jahre sp?ter war die Umfahrung Liestal fertig gestellt. Zur gleichen Zeit liess sich der deutsche Politiker Hans-Jochen Vogel mit dem Satz ?Wer Strassen s?t, wird Verkehr ernten? zitieren ¨C ein Spruch, der auch heute noch gerne verwendet wird. Und Vogel sollte auf seine Weise Recht behalten. Denn bereits in den 1990er staute sich der Verkehr auf Liestals Hauptstrasse wieder genau gleich wie in den 1960er Jahren ¨C trotz Umfahrung. [3]

Schafft Angebot Bed¨¹rfnis ¨C oder umgekehrt?

Und heute? Die Urbanisierung, ein globaler Megatrend, geht weiter. In den St?dten streitet man sich nach wie vor um die richtige Verkehrspolitik. So sind es zwar nicht mehr Pferdemist und ¨Cl?rm, sondern zum Beispiel Autoparkpl?tze, an denen sich die Geister scheiden. Der Ausbau der Strassen sowohl innerhalb der Siedlungsgebiete wie auch ¨¹ber Land ist nach wie vor ein probates Mittel, das auch in der Schweiz verl?sslich politische Mehrheiten findet. Was im London des 18. Jahrhunderts und Baselland des 20. Jahrhunderts fehlgeschlagen ist, soll nun irgendwie doch funktionieren ¨C so zumindest werden die Milliardeninvestitionen gerechtfertigt.

Ich bin k¨¹rzlich auf einen lesenswerten Aufsatz aus Nordamerika [4] gestossen, der Hans-Jochen Vogels Eindruck auch wissenschaftlich best?tigt: Mehr Verkehrsinfrastruktur ist keine L?sung f¨¹r Stau. Das trifft ganz offensichtlich auch auf die Eisenbahn zu, die mit Bahn 2000 bereits ?Opfer ihres eigenen Erfolgs ist? ¨C dennoch w¨¹rde die Schweiz ohne Eisenbahn wohl gar nicht mehr funktionieren. [5]

Wird es die Technik allein richten?

Das immer schnellere und leistungsf?higere Verkehrssystem hat der Schweiz zweifellos Wohlstand und Vielfalt gebracht. Allerdings, und das macht die Besch?ftigung mit Mobilit?t und Verkehr auch so spannend, sind dabei auch eine Vielzahl an ?unerwarteten Nebenwirkungen? f¨¹r Umwelt und Gesellschaft aufgetreten. Und wie schon oft in den vergangenen zweihundert Jahren steht der Verkehrssektor nun erneut vor einem rasanten Wandel: Die digitale und autonome Mobilit?t, in der selbstfahrende Autos dank optimaler Auslastung die Strassen entschlacken.

Ob Digitalisierung und technologischer Fortschritt tats?chlich die erwarteten Effizienzgewinne bringen, oder noch mehr Bed¨¹rfnisse erzeugen, wird sich weisen. [6] Unabh?ngig davon sollten wir uns als Gesellschaft fragen, was uns der Mehrverkehr tats?chlich bringt.

Aus meiner Sichtw?re es klug, Verkehr und Mobilit?t stets im Kontext von Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt zu denken und Kosten sowie Nutzen umfassend zu analysieren. Nur sind viele Effekte zum Teil stark zeitversetzt und in Realit?t Kreisl?ufe und nicht einfache Ursache-Wirkungsbeziehungen. Je intensiver wir unsere Mobilit?t leben, desto umfassender und tiefgreifender werden auch die ausgel?sten Umw?lzungen ¨C die negativen, aber zum Gl¨¹ck auch die positiven.

Eine Patentl?sung in diesem Dilemma sehe ich im Moment keine ¨C aber Sie vielleicht?