Die Antarktis in unserem Hinterhof

Auch wenn wir uns zu Recht ¨¹ber den Schutz einer abgelegenen und unber¨¹hrten Landschaft freuen, sind wir uns doch der Umwelt und Artenvielfalt in unserem direkten Umfeld zu wenig bewusst. In seinem Living Planet Report [2] hielt der WWF k¨¹rzlich fest, dass der Bestand an frei lebenden Land- und Meerestieren allein in den letzten 40 Jahren (1970-2012) weltweit um fast 58 Prozent gesunken ist ¨C eine Zahl, die bis 2020 wahrscheinlich auf 67 Prozent ansteigen wird. Auch wenn diese Entwicklung durchaus abgelegene Gegenden wie die antarktischen Meeresgebiete und den Regenwald von Borneo betrifft, sollten wir nicht vergessen, dass ein Grossteil des R¨¹ckgangs direkt in unserer Nachbarschaft stattfindet.

Wir unterst¨¹tzen Initiativen zum Schutz von Tigern und Walen in weit entfernten Gegenden und ignorieren dabei, dass unsere heimischen Gartenv?gel, Insekten, alpinen Pflanzen und urspr¨¹nglichen Baumbest?nde zusehends weniger werden. Die europ?ischen Hecken und Felds?ume, die einst reich an Insekten und Spinnentieren waren, haben ihre nat¨¹rliche Identit?t verloren oder sind nach jahrzehntelanger intensiver Landwirtschaft gar vollst?ndig verschwunden. In unseren W?ldern ist es unnat¨¹rlich still, was uns kaum aufzufallen, geschweige denn zu st?ren scheint. Die Schweiz hat erst k¨¹rzlich die Chance verpasst, mit dem Parc Adula [3] einen zweiten Nationalpark zu gr¨¹nden. Tropische Regenw?lder und antarktische Meeresgebiete scheinen st?rker in unser Gewissen vorzudringen als unser eigenes Umfeld. Warum?

Mit dem Ort verbunden

Ich schreibe dies dem Verlust der ?Ortsverbundenheit? in unserer modernen und gr?sstenteils urbanisierten Welt zu. Amos Rapoport, ein relativ bekannter australischer Architekt [4], ist fasziniert von der Beziehung der australischen Aborigines zum Land, auf dem sie leben. F¨¹r sie ist jedes Element in der Landschaft voller Sinn und Legenden. Mythen und Rituale, die geografisch eng mit dem jeweiligen Ort verbunden sind, vermitteln ein Gef¨¹hl von Zugeh?rigkeit und Verst?ndnis. Steine und Fl¨¹sse erz?hlen Geschichten. Sie zeichnen eine mythologische Landschaft, die dem Leben Zweck und Bedeutung verleiht.

Dabei, so erkl?rt uns Rapoport, sind die nat¨¹rliche und die mythische Landschaft nicht identisch. Sie sind aber eng miteinander verwoben und treffen an markanten Orten sowie in Naturph?nomenen aufeinander. Aborigines bewegen sich nicht einfach in einer physischen Landschaft, sondern einer ?vermenschlichten Sph?re voller Sinn?. Was unseren Augen als weite, ?de Landschaft erscheint, ist f¨¹r einen Aborigine voller Bedeutung, die Br¨¹cken zwischen der physischen und der geistigen Welt schl?gt.

Uns im Westen erschliesst sich der Sinn dieser urspr¨¹nglichen Landschaften nicht. Wir laufen aber auch Gefahr, das Wesen und die Bedeutung unserer eigenen Landschaften zu verkennen. Rapoport zufolge lassen sich die Aborigines durch Fotos von Geb?uden, Flugzeugen oder Autos kaum beeindrucken. Sie interessieren sich f¨¹r Landschaften, Natur, Menschen und Tiere und nehmen darauf R¨¹cksicht. Unsere Werte hingegen sind heute eng mit unserem k¨¹nstlich erschaffenen Umfeld verbunden: mit unseren St?dten und Geb?uden ¨C oder gar noch n¨¹chterner mit den materiellen G¨¹tern, welche Reichtum, Prestige und unseren Wunsch nach Anerkennung widerspiegeln. Wir sind mit der Naturlandschaft um uns herum kaum mehr verbunden und sch?tzen sie entsprechend gering. Wir haben unsere Ortsverbundenheit verloren. Genau das ist meiner Meinung nach der Grund, warum wir den Untergang unserer europ?ischen Arten nicht aufhalten, obwohl sich diese Trag?die direkt vor unseren Augen abspielt.

Im Einklang mit der Umwelt

Ich erinnere mich daran, wie ich als Student der Universit?t von St. Andrews in Schottland mit dem Velo die Landstrassen am East Neuk of Fife entlangradelte und dabei die Scharen von Kiebitzen bestaunte, die sich auf die frisch gepfl¨¹gten Felder st¨¹rzten. Ich erinnere mich, wie sich immer wieder f?dige Spinnweben (englisch: gossamer threads) in meinem vom Wind durchwehten Haar verfingen. Die Zahl der Kiebitze ist seither um etwa 60 Prozent zur¨¹ckgegangen, und die feinen Spinnweben nimmt ein Velofahrer heute nicht mehr wahr. Solche besondere Momente gibt es heute nicht mehr. Aber in meiner Erinnerung leben sie weiter.

Die Natur sch¨¹tzen bedeutet mehr, als nur exotische Arten und abgelegene Orte von herausragender Sch?nheit zu sch¨¹tzen, die wir selbst wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen. Es bedeutet auch, unsere allt?glichen Naturerlebnisse zu bewahren. Und zwar nicht als Erinnerungen, sondern als reale Erlebnisse, die wir zusammen mit unseren Kindern und Enkelkindern immer wieder aufs Neue erfahren.

Damit diese Vision wahr wird, m¨¹ssen wir unsere Landschaften und Lebensr?ume wieder wahrnehmen und ihre nat¨¹rliche Sch?nheit erkennen. Wir m¨¹ssen unsere Ortsverbundenheit wiederentdecken und die immateriellen Werte sch?tzen lernen, die uns mit Land und Natur verbinden. Nur dann k?nnen wir ¨C ?hnlich wie die Aborigines in Australien ¨C eine harmonische Beziehung zu unserer Umwelt aufbauen ¨C eine Beziehung, in der wir uns als Teil der Natur verstehen anstatt sie aus dem Gleichgewicht zu bringen.