Die Zukunft der Universitäten im digitalen Zeitalter
Die digitale Revolution ver?ndert die Gesellschaft und erfordert eine Neudefinition der Rolle der Universit?ten, schreiben ETH-Pr?sident Lino Guzzella und Professor Gerd Folkers.
Die Kl?ster unterhielten als W?chter und Kultst?tten des Wissens einst enorme Schriftensammlungen, welche die Grundlage des heutigen Wissens bildeten. Die Abtei St. Gallen, deren Architektur, Schule und selbst deren Kr?utergarten vielen kl?sterlichen Gemeinschaften als Vorbild dienten, hat nicht nur die Lebendigkeit des Wissens bewahrt, sondern auch die Lehre gef?rdert.
W?hrend die im Skriptorium t?tigen M?nche die althergebrachten christlichen Texte kopierten, wobei einige der Schreibenden kaum in der Lage waren, deren Inhalt zu verstehen, vermoderten die in r?mischen Manuskripten wie beispielsweise dem Traktat von Lukrez enthaltenen revolution?ren Ideen in den Kellern der Klosterbibliotheken. Bis Poggio, ein ?aufgekl?rter? ehemaliger Sekret?r des Papstes, der auf dem Rücken eines Esels durch das Land zog, auf den Schatz stiess. Der Historiker Stephen Greenblatt erz?hlt jedenfalls, wie Poggio De Rerum Natura wiederentdeckte.
W?hrend beinahe tausend Jahren haben Universit?ten Denkern eine Heimat geboten, die es sich zur Aufgabe machten, Weisheiten zu hinterfragen, und die damit dem wissenschaftlichen Fortschritt den Weg bereiteten. Denn in modernen und offenen demokratischen Gesellschaften herrschte Nachfrage nach individuellem, kollektivem, aber gleichzeitig auch gesellschaftlich relevantem Wissen. Mit der Erfindung der Druckerpresse vor 600 Jahren revolutionierte die Technologie nicht nur die Verbreitung von Wissen, sondern setzte dieses auch in einen kritischen und gesellschaftlichen Kontext.
Heute pflegen, verarbeiten und hinterfragen neue Medien Wissen – ?hnlich, wie dies bereits vor sechs Jahrhunderten der Fall war. Trotz des technischen Fortschritts ist die Gesellschaft weiterhin mit grossen Hindernissen in Bezug auf transparente Prozesse und den Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen konfrontiert. In einer Zeit, in der maschinelles Lernen und Quantum Computing Einzug halten, stellt sich die konkrete Frage, wie das digitale Zeitalter die Wissensbeschaffung, das kritische Denken und letztlich auch die Zukunft der Universit?ten beeinflussen wird.
Wissen und Wohlstand
Bildung, Wohlstand und Lebensqualit?t scheinen fest miteinander verbunden zu sein. Galileo Galilei zog schliesslich nicht deshalb den Zorn der Kardin?le auf sich, weil er die Sonne im Zentrum unseres Planetensystems ansiedelte, sondern, weil er sein Werk in italienischer Sprache ver?ffentlichen wollte, damit auch die ?einfachen Leute? es verstehen konnten.
Getreu dem Ideal Galileis haben Universit?ten nicht nur die Verantwortung, ihr Wissen der ?ffentlichkeit zug?nglich zu machen, sondern auch, die vorherrschenden Weltbilder zu hinterfragen. Wissen und die F?higkeit, es zu verarbeiten, sind das Kapital der Universit?ten. Nur durch die kontinuierliche Pflege und den gewinnbringenden Einsatz dieses Kapitals k?nnen wir den Wohlstand einer offenen Gesellschaft und ihre Eignung im Wettbewerb mit anderen gesellschaftlichen Modellen steigern.
Immer schneller werden heute neue Technologien entwickelt und auf den Markt gebracht, was jeweils mit viel medialer Aufmerksamkeit einhergeht. Auch wenn es sehr viel l?nger dauert, bis sich Erkenntnisse durchsetzen, die es nicht in die renommierten wissenschaftlichen Journale schaffen, ist deren wirtschaftliches Potenzial dennoch gewaltig. Ein Beispiel dafür ist die neue Genome-Editing-Technologie CRISPR-Cas9. Nachdem die Methode jahrelang kaum Beachtung fand, streiten sich heute renommierte Universit?ten um entsprechende Patente.
Die Aufmerksamkeit, die den Ver?ffentlichungen zu diesem Thema und den damit verbundenen potenziellen bzw. tats?chlichen Marktchancen, zuteilwird, ist für die Universit?ten deshalb wichtig, weil dadurch Investoren angezogen werden. Wenn eine Universit?t aufzeigen kann, dass ihre Produkte sofort marktf?hig sind, verbessert dies den Ruf, den sie bei den Steuerzahlern und letztlich auch den Politikern geniesst.
Demokratie und kritisches Denken
Universit?ten bewegen sich seit mehr als tausend Jahren im ?Wissensmarkt?. Seit Gründung der Universit?t Bologna haben Universit?ten Wissen verarbeitet und durch Reflexion und Transformation neue Sichtweisen hervorgebracht. Der empirische Ansatz als wesentlicher Bestandteil der Lehre hat der Zeit standgehalten und sich hinsichtlich Aufwand und Ertrag immer wieder als wirksame Methode erwiesen. Die Struktur einer Universit?t erfordert eine strikte Methodologie, um die n?chste Generation zu lehren, wie sie Wissen kritisch einsetzen, hinterfragen und reformieren kann. Dieser Prozess ist nur dann m?glich, wenn Universit?ten innerhalb eines demokratischen Systems existieren, das uneingeschr?nkte Meinungsfreiheit zul?sst.
Jedes ?Warum? zieht das etablierte Weltbild in Zweifel, verbessert aber zugleich das gesellschaftliche Verst?ndnis und hilft den Menschen, ihren Weg durch die Welt einfacher zu finden. Wissensbasierte Fortschritte haben Krankheiten wie Pocken und Kinderl?hmung ausgerottet, die Massenkommunikation demokratisiert und die Mobilit?t revolutioniert. Neue Medien und maschinelles Lernen begünstigen einen grundlegenden Wandel von Bildung und Forschung.
?Mit der Demokratisierung des Wissens wird wertebasiertes kritisches und kreatives Denken zum Alleinstellungsmerkmal einer Universit?t.?Lino Guzzella und Gerd Folkers
Es mag eine gewisse Zeit dauern, aber auch Maschinen werden vielleicht irgendwann in der Lage sein, ?Warum?-Fragen zu stellen, nach systematisch geordneten Antworten zu suchen und dabei einen methodischen Ansatz zu verfolgen. Dennoch wird die Aufgabe, die Erkenntnisse künstlicher Intelligenz durch Argumentation und Nachweise zu validieren, ein wesentlicher Bestandteil unserer Diskurskultur bleiben. Durch ihre F?higkeit zu Empathie, Intuition und Abstraktion werden sich die Menschen weiterhin von intelligenten Maschinen unterscheiden. Dank unserer Fülle an emotionaler Intelligenz werden Roboter uns nie ersetzen.
Die Zukunft der Universit?ten
Keiner bestreitet, dass das Fundament der Wissenschaft auf festen Strukturen aus Axiomen, Gesetzen und Theorien beruht, und kritisches Hinterfragen des vorherrschenden Weltbilds ist ein Leitprinzip. Dennoch ger?t die akademische Welt zuweilen in Versuchung, eher nach Best?tigung zu suchen statt nach Unstimmigkeiten. Lieber werden positive Resultate aufgeführt und Sichtweisen verengt, als die Zw?nge einer einzelnen Disziplin durchbrochen. Diese problematische Haltung führt zu einer Publikationsverzerrung (Publication Bias), zu ?alternativen Fakten? und im schlimmsten Fall zu Betrug. Es ist deshalb die Pflicht unserer Universit?ten und eigentlich aller Wissenschaftler und ihrer Institutionen, den Peer-Review-Prozess kontinuierlich zu überprüfen und zu verbessern.
Weil der technologische Fortschritt sowohl die Schaffung als auch die Verbreitung von Wissen grundlegend ver?ndert, haben Universit?ten ihre einst so dominante Rolle verloren. Sie stehen heute im Wettbewerb mit einer Vielzahl von Wissensanbietern, die 24 Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche und weltweit zug?nglich sind. Eines ist deshalb sicher: Dem Gesch?ft mit dem Wissen stehen wesentliche Ver?nderungen bevor. Mit der Demokratisierung des Wissens wird wertebasiertes kritisches und kreatives Denken zum Alleinstellungsmerkmal einer Universit?t. Davon sollten die Universit?ten profitieren, indem sie den Austausch zwischen verschiedenen Welten, Sprachen und Denkweisen weiter pflegen. Wenn sie das tun, werden sie sich selbst kritisch und kreativ weiterentwickeln.
Beim vorliegenden Artikel handelt es sich um einen Auszug aus der Konferenzver?ffentlichung ?Universities as curators of knowledge? des externe Seite Glion Institute of Higher Education. Dieser wurde zuerst im Diplomatic Courier Magazine ver?ffentlicht (externe Seite hier).
Global Talent Summit 2018
Die ETH Zürich und das US-Magazin externe Seite Diplomatic Courier sind Gastgeber des fünften Global Talent Summit, der am 20. Januar an der ETH stattfindet. Rund 400 Meinungsführer, Risikokapitalgeber und Strategen aus der ganzen Welt diskutieren die Auswirkungen der Digitalisierung auf Bildung, Innovation und die Arbeitswelt von morgen; ein Schlüsselthema, das auch am World Economic Forum (WEF) in Davos kommende Woche auf der Agenda steht. Die Er?ffnungsrede zum Global Talent Summit h?lt ETH-Pr?sident Lino Guzzella.
externe Seite Weitere Informationen zu dieser Veranstaltungen fünften Global Talent Summit-