Im Reich der Fantasie

Adam Jasper denkt darüber nach, was die Digitalisierung, insbesondere digitale Bilder, für architektonische Praxis und für die Architekturgeschichte bedeutet.

Adam Jasper

Im Jahr 2017 war das meistgesehene Architektur-Projekt der Welt die Tianjin-Binhai-Bibliothek. Das Geb?ude ist Teil eines Stadtprojekts, das den Hafenbezirk einer ?kologisch grimmigen, aber wirtschaftlich florierenden chinesischen Hafenstadt wiederbeleben sollte. Ich glaube, die Architekten der Bibliothek haben nicht in erster Linie ein Geb?ude, sondern vor allem das Bild einer Bibliothek geschaffen. Ein spektakul?res Interieur, das scheinbar nur aus Bücherregalen besteht, die geformt und fliessend sind und nicht nur als Regale, sondern auch als Sitzgelegenheiten, Stufen und Lamellen fungieren. Das Ergebnis sind Bilder, die aus einem Science-Fiction stammen k?nnten.

Tianjin Library
Die Tianjin Binhai-Bibliothek ist eines der im Internet meistbesuchten Architekturprojekte. (Bild: Ossip van Duivenbode)

Die Bibliothek wurde von den Medien als ein Riesenerfolg gefeiert. Es ist lobenswert, dass die Regierung von Tianjin eine Bibliothek zum Zentrum ihrer Stadterneuerung macht. Doch – nach wie vor sind die meistverbreiteten Bilder die digitalen Renderings, die gemacht wurden, um das Projekt zu bewerben, bevor es gebaut wurde, nicht etwa die Fotos des realen Geb?udes.

Es ist, als ob das Projekt auch nach der Fertigstellung lieber im Reich der Fantasie geblieben w?re. Dafür spricht auch, dass einige Wochen nach der Er?ffnung ein kleiner Skandal ausbrach: Besucher berichteten, dass in den oberen Regalen keine Bücher stehen, sondern lediglich eine flache Tapete mit aufgedruckten Buchrücken verwendet wurde. Diese Architektur ist somit eine Architektur für und wegen der Bilder.

Mehr Bild als Geb?ude?

Es überrascht heute niemanden mehr, dass die gr?ssten Architektur-Websites mehr Besucher haben als die berühmtesten Geb?ude. Archdaily zum Beispiel hat etwa so viele Besucher in einem Monat wie die Tate Modern in einem Jahr. Es ist nicht neu, dass wir Architektur seit langem zuerst als Bild und erst dann als realen Ort wahrnehmen. Aber die Art, wie wir Architektur konsumieren, hat sich mit dem digitalen Entwurf, dem Rendering, gewandelt. Die digitalen Entwürfe zeigen keine L?sungen, in denen wir leben k?nnen, sondern L?sungen, in denen wir gerne leben m?chten – das ist ein gewaltiger Unterschied. Ein Jahr nach der Er?ffnung ist die Binhai-Bibliothek selbst nicht mehr aktuell. Wir haben weiter gescrollt.

?Die CAAD-Architektur der sp?ten 1980er Jahre ist in vielerlei Hinsicht weniger gut dokumentiert als die Kirchenarchitektur des fünfzehnten Jahrhunderts.?Adam Jasper

Mit den verführerischen digitalen Entwürfen l?sst sich ein Projekt sehr leicht verbreiten, aber sie fangen auch an zu beeinflussen, wie die Architektur gestaltet wird. Wo einst die Fotografie eines Geb?udes klar definierte Fl?chen, rechte Winkel und atmosph?rische Beleuchtung forderte, f?rdern die beliebten Renderings in den letzten Jahrzehnten kurvige Geometrien, visuelle Anspielungen. In einem übertriebenen Mass ist alles artifiziell.

Das Dilemma der Architekturgeschichte

Die digitale Transformation hat aber nicht nur Auswirkungen auf die Architektur, sondern sie führt auch die Architekturgeschichte in ein Dilemma. Historisch gesehen wurde die Zeichnung seit Alberti als Artefakt, als Bindeglied zwischen der Idee des Architekten und der gebauten Struktur verstanden. Um ein Geb?ude zu verstehen, wandten sich Historiker und Historikerinnen den Zeichnungen zu.  

In der heutigen Praxis wird die Zeichnung durch digitale Modelle ersetzt – aber: Ein digitales Modell ist kein Bild an sich, sondern ein Datensatz, der auf verschiedene Weise sichtbar gemacht werden kann. Wie soll die Architekturgeschichte, die sich mit den Zeichnungen und damit mit den Ideen der Architekten besch?ftigt, darauf reagieren?

Zudem sind unsere digitalen Konservierungspraktiken v?llig unzureichend: Dateitypen werden unlesbar, Links verrotten und Medienformate versagen. Die CAAD-Architektur der sp?ten 1980er Jahre ist in vielerlei Hinsicht weniger gut dokumentiert als die Kirchenarchitektur des fünfzehnten Jahrhunderts. Darunter leiden die etablierten Werkzeuge der Wissenschaft. Wie sollte vor diesem Hintergrund die architekturgeschichtliche Bildung aussehen? Die technologischen Entwicklungen werfen in der Architektur und auch in der Architekturgeschichte viele Fragen auf – h?chste Zeit, sich über den enormen Einfluss der Digitalisierung im Klaren zu werden.     

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