Ist die Medizin bereit für künstliche Intelligenz?
Dank künstlicher Intelligenz kann die Medizin effizienter und sicherer werden. Walter Karlen argumentiert, warum wir den Anschluss an den Vorreiter China nicht verpassen dürfen.
Vor ein paar Wochen habe ich durch die Schweizer Fernsehsendung ??rzte vs. Internet? gezappt. In der Sendung duellieren sich zwei Teams, Patienten richtig zu diagnostizieren. Ich war sehr überrascht zu sehen, dass beide Teams aus Menschen bestanden. Die Antworten des Internet-Teams waren daher nur so gut wie die Suchbegriffe, mit denen es nach Informationen googelte, und nur so gut wie die Schlussfolgerungen, welche Menschen aus solchen Informationen ziehen k?nnen.
Warum duellieren sich die ?rzte nicht mit einer Maschine? In China, wo ein akuter ?rztemangel besteht, gibt es solche Wettbewerbe. Vor wenigen Monaten trat das Computersystem Biomind, das mit künstlicher Intelligenz arbeitet, gegen ein Team von 25 Fach?rzten an. Computer und ?rzte mussten Hirnbilder analysieren, dabei Hirntumore diagnostizieren und den Krankheitsverlauf voraussagen. Dass die Maschine die Experten 2:0 schlug, wurde bei uns kaum wahrgenommen, fand aber grosse Aufmerksamkeit im asiatischen Raum.
Ich bin überzeugt, dass die auch die bei ??rzte vs. Internet? teilnehmenden Klinker in ihrer t?glichen Arbeit schon heute routinem?ssig sogenannte klinische Entscheidungshilfen einsetzen – bewusst oder unbewusst. Solche Systeme gibt es bereits in vielen Gesundheitsanwendungen, meist in noch sehr einfacher Form: Jedes Ger?t, das im Spital den Zustand eines Patienten überwacht, l?st beim ?berschreiten eines Schwellenwerts einen Alarm aus. Bei der telemedizinischen Beratung und in Notfallzentralen helfen Computersysteme bei der Triage. Und in der Vorrats- und Bestelllogistik von Medikamenten kommen Systeme zum Einsatz, die nicht nur den Lagerbestand analysieren, sondern auch automatisierte Voraussagen zum Bedarf berücksichtigen.
Chinas Dominanz
Die Idee, Computer zur Verbesserung der medizinischen Versorgung einzusetzen, hat seit über 50 Jahren regelm?ssige Zyklen von Hypes und Ernüchterungen durchlaufen. Meist waren diese Zyklen regional, so auch derzeit: Jüngst reduzierte IBM den Mitarbeiterbestand in seiner Sparte Watson Health, was sinnbildlich für die Mühe westlicher Unternehmen mit dem Einsatz künstlicher Intelligenz (artificial intelligence, AI) in der Medizin steht. Gleichzeitig feiert China Erfolge: Es wurden dort intelligente Systeme entwickelt, welche sogar ?rzteprüfungen bestehen. Und das Guangzhou Second Provincial Central Hospital berichtete jüngst, es habe ein spitalweites AI-System eingeführt, welches unter anderem ein Vorab-Screening von Patienten übernimmt und den Nachschub für Operations-Material automatisch organisiert.
?Wenn wir die personalisierte Medizin Wirklichkeit werden lassen wollen, k?nnen wir auf eine Automatisierung nicht verzichten.?Walter Karlen
Die Vorteile klinischer Entscheidungshilfen liegen auf der Hand. Menschen – auch ?rzte – sind schlecht darin, Daten aus einer Vielzahl von Quellen zusammenzuführen und auf Trends zu analysieren, und ihre Bewertungen sind vielfach stark von negativen Erfahrungen beeinflusst. Andererseits sind Maschinen in ihrer jetzigen Form immer noch schlecht darin, Daten kontextabh?ngig zu interpretieren, und sie k?nnen schlecht mit unsicheren Situationen umgehen. Menschen machen Fehler und die Maschinen auch. Im Allgemeinen kann ein guter Arzt jedoch einen Fehler beheben, wenn er ihn rechtzeitig erkennt. Aktuelle, nicht-AI-basierte klinische Entscheidungsysteme haben keine F?higkeit, Interventionsergebnisse vorherzusagen. Dies ist der Hauptgrund, warum diese Systeme in einer offenen Schleife arbeiten, in der Kliniker noch immer ein zentraler Teil sind.
Genauer und sicherer
In der Vergangenheit wurden viele Systeme und Ans?tze der künstlichen Intelligenz vor allem in einem akademischen Umfeld erforscht. Nur sehr langsam wurden sie von der medizinischen Praxis aufgenommen. Der Hauptgrund dafür war, dass weder die Systeme selbst, noch die Menschen dafür bereit waren. Denn wie andere Medizinprodukte auch müssen solche Systeme die hohen medizinischen Standards erfüllen, in die lokalen kulturellen, ethischen, regulatorischen und organisatorischen Rahmenbedingungen passen, kosteneffizient sein und ein nachhaltiges Gesch?ftsmodell erm?glichen. Dies gilt auch für die neue AI-basierte Generation klinischer Entscheidungssysteme, die in der Tat in der Lage sein k?nnten, genauere und personalisiertere Diagnosen zu liefern.
Die Automatisierung im Gesundheitswesen hat jedoch ein noch tiefergreifendes Ziel: Qualit?t und Sicherheit der Dienstleistungen zu verbessern. Die Medizin hat bereits eine etablierte Sicherheitskultur und ist damit bereit für bessere und sicherere Systeme. Wenn wir nachweisen k?nnen, dass automatisierte Systeme die Patientensicherheit konsequent erh?hen, wird die Frage nicht mehr sein, ob wir AI-gestützte klinische Entscheidungshilfen einsetzen sollen, sondern vielmehr, wann und wie schnell dies geschehen soll.
Ohne AI keine personalisierte Medizin
Die harte Realit?t ist, dass unser Gesundheitssystem ohne intelligente klinische Entscheidungshilfen einfach zum Erliegen kommen wird. Für Mitarbeiter auf Intensivstationen ist es bereits Alltag, st?ndig die Lebensfunktionen der Patienten zu überwachen und auf die Alarme und Fehlalarme der Messsysteme zu reagieren. Bald wird diese Informationsflut auch andere Fach?rzte und Allgemeinmediziner erreichen: Sie werden mit Daten von Wearables, genetischen Tests und anderen Biomarker-Messungen bombardiert werden, welche sie innerhalb der 10 bis 30 Minuten Patientenbegegnung für die Diagnose- und Behandlungsentscheidung mitberücksichtigen sollten.
Wenn wir die personalisierte Medizin Wirklichkeit werden lassen wollen, k?nnen wir auf eine Automatisierung nicht verzichten: Die vielen Daten müssen durch automatisierte Algorithmen verarbeitet, bewertet, analysiert und verst?ndlich dargestellt werden.
Und damit bleiben einige grosse Fragen, die ?ffentlich debattiert werden müssen. Ich kann diese hier nicht einfach beantworten: Wer wird in Zukunft in einer am Computer entstandenen klinischen Entscheidung das letzte Wort haben? Wird die allwissende Maschine den Menschen ganz ersetzen oder werden ?rzte in diesem Prozess noch eine Rolle spielen? Werden die Krankenversicherer oder die Spit?ler die Algorithmen zu ihren Gunsten beeinflussen k?nnen? Und wird der Patient sein Mitspracherecht behalten k?nnen?
Digital Health
Am 7. und 8. September steht an der ETH das Thema digitale Gesundheit im Fokus. In einer digitalen Erlebniswelt in der Haupthalle des Hauptgeb?udes sind die neusten Produkte erlebbar, die von ETH-Forschenden und ETH-Spin-offs entwickelt wurden. Parallel dazu diskutieren Experten aus Gesellschaft, Gesundheitswesen, Industrie, Forschung und Politik an einer Veranstaltung über die Digitalisierung in der Medizin.
Die Erlebniswelt ist auch noch für Kurzentschlossene zug?nglich: am Freitag, 7. September von 17.15 bis 20 Uhr und am Samstag, 8. September von 9 -16 Uhr.
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