Verborgene Bewertungen sichtbar machen
ETH-Forscher um Rafael Polanía entwickelten ein Computermodell, das gewisse Entscheidungen eines Menschen voraussagen kann. Damit k?nnen die Wissenschaftler beispielsweise Prognosen erstellen, welche Nahrungsmittel jemand in einem Supermarkt kaufen wird – fürs Marketing oder die Gesundheit eine wertvolle Information
Einkaufen im Supermarkt ist manchmal die Qual der Wahl. So viele verschiedene Lebensmittel, die da im Angebot sind. Und trotzdem verbringen wir nicht Stunden damit, diejenigen auszuw?hlen, die uns schmecken. Die Entscheidungen für oder wider gewisse Produkte f?llen wir meist schnell und ohne darüber nachzudenken.
Das hat weniger mit unserer Entscheidungsfreude zu tun, als mit einem ?usserst effizienten Informationsverarbeitungsprozess im Gehirn. Ein Dreierteam von Forschern der ETH Zürich, der Universit?t Zürich und der Columbia University hat nun diesen Prozess in einem neuen Computermodell nachgestellt. Damit k?nnen die Wissenschaftler mit hoher Treffsicherheit voraussagen, für welche Lebensmittel beispielsweise sich eine Person entscheidet.
?Wir k?nnen mit diesem Modell den Menschen quasi in den Kopf schauen und sein Entscheidungsverhalten vorhersagen?, erkl?rt Rafael Polanía, Professor für Entscheidungs-Neurowissenschaft der ETH Zürich. Das Modell wurde in der Fachzeitschrift ?externe Seite Nature Neuroscience? vorgestellt.
Bewertungsraster im Hirn abgelegt
Grundlage des abgebildeten Prozesses respektive des Modells ist ein subjektives, im Gehirn abgelegtes Bewertungsraster. In diesem Raster sind aufgrund früherer Erfahrungen und Erinnerungen Bewertungen für jedes Lebensmittel hinterlegt, ?hnlich wie bei grossen Online-H?ndlern, wo Nutzerinnen und K?ufer Produkte mit Sternen bewertet haben.
Dieses hirninterne Bewertungssystem ist kontextabh?ngig. Geht man zum Beispiel Lebensmittel einkaufen, richtet sich das Hirn aus auf den jeweiligen Supermarkt, in dem man einkauft. Es ist zudem flexibel, speichert also auch neue Erfahrungen.
Ein solch effizientes Bewertungssystem entlastet das Hirn, dessen Verarbeitungskapazit?t – die Zahl der zur Verfügung stehenden Neuronen ist endlich - begrenzt ist. Die Effizienz ist auch deshalb wichtig, da das Hirn über seine in die Aussenwelt gerichteten Sensoren wie Augen, Ohren, Nase oder Zunge laufend mehr Informationen aufnimmt, als es verarbeiten kann.
Rückgriff auf gespeicherte Vorlieben
Bei Entscheidungen, wie sie der moderne Mensch im Supermarkt trifft, greift das Gehirn deshalb auf das kontextspezifische Bewertungsraster zurück. Einfacher gesagt: Kaufe ich in einem bestimmten Laden (Kontext) Orangen, dann tue ich das, weil ich bereits früher in diesem Gesch?ft gute Erfahrungen mit Orangen gemacht habe. Auf meiner hirninternen Bewertungsplattform gebe ich den Südfrüchten 95 von 100 Punkten. Grapefruits mag ich weniger, weil sie mir zu sauer waren und sie nur 10 Punkte erhielten.
Solche Einzelbewertungen ergeben eine Gesamtverteilung der Vorlieben. Diese l?sst sich mathematisch beschreiben und auswerten. Und genau hier setzt das Modell an. Es trifft aufgrund solcher Bewertungsverteilungen und Effizienzprinzipien zutreffende Prognosen darüber, für welches Lebensmittel sich eine Versuchsperson entscheiden wird.
Erstes komplettes Modell
Bislang gelang es Neurowissenschaftlern oder ?konomen nur mit Mühe, mathematische Modelle zu erarbeiten, welche solche Entscheidungsprozesse vollst?ndiger abbilden und die limitierte Hirnkapazit?t einbeziehen. ?Das neue Modell sagt in den allermeisten F?llen richtig voraus, für welches Lebensmittel sich eine Versuchsperson entscheiden wird?, sagt Polanía, ?und darüber hinaus auch, wie oft jemand seine Meinung ?ndert.?
Getetest und kalibiriert haben die Forschenden das Modell anhand von Bewertungen, die von Probandinnen und Probanden stammen. Diese mussten 60 Produkte des allt?glichen Bedarfs aus einem Schweizer Supermarkt bewerten. Die Produkte wurden ihnen pr?sentiert mit der Frage, wie sehr sie es nach dem Experiment gerne essen würden. Danach wurde die Befragung wiederholt, um auch die Variabilit?t von Hirnsignalen bei der Bewertungsbildung abzudecken.
In einem zweiten Experiment erhielten die Versuchspersonen zwei Produkte gleichzeitig vorgesetzt. Sie mussten sich für eines entscheiden. Der Computer, bereits gefüttert mit den Daten des ersten Experiments, konnte schliesslich auch in diesem Fall die Entscheidung der Probandinnen und Probanden vorwegnehmen.
Modell auf Gesundheitsentscheidungen anwenden
?Anwenden kann man ein solches Modell bei allen Entscheidungen, die auf subjektiven Einsch?tzungen beruhen?, sagt Polanía. Marketingfachleute k?nnten beispielsweise besser vorhersehen, welche Produkte bei den Leuten Anklang f?nden. ?konomen k?nnten es für eine bessere Preisgestaltung nutzen.
Man k?nne das Modell auch dazu verwenden, um gewisse Aspekte der Gesundheit besser zu verstehen. ?Auch diese Entscheide beruhen auf subjektiven Bewertungen, etwa für wie gesund jemand ein bestimmtes Produkt h?lt?, erkl?rt der Forscher weiter. Er ist derzeit daran, dieses Kriterium in das Modell zu integrieren. Damit will er herausfinden, wie Personen Entscheidungen in Bezug auf die Ern?hrung f?llen, was wiederum für Essst?rungen wie Magersucht oder Fettleibigkeit relevant ist. Polanía arbeitet dabei mit Kollegen zusammen, die das Thema Selbstkontrolle erforschen.
Literaturhinweis
Polanía R, Woodford M, Ruff CC. Efficient coding of subjective value. Nature Neuroscience, volume 22, pages134–142 (2019) DOI: externe Seite 10.1038/s41593-018-0292-0