Datenschatz vom Matterhorn

Im Hitzesommer 2003 ereignete sich am Matterhorn ein Felssturz, der ?ffentlichkeit wie Forschung aufschreckte: Am H?rnligrat brachen 1500 Kubikmeter Fels ab ¨C das entspricht etwa dem Volumen von zwei Einfamilienh?usern. Im steilen Fels klaffte eine L¨¹cke, die mit Eis bedeckt war. Rasch wurde Fachleuten klar: Die Rekordhitze hatte den Fels bis in grosse Tiefen erw?rmt und das Eis, das in Poren und Rissen enthalten war, geschmolzen. Dadurch fehlte pl?tzlich der Kitt, welche die Felsmassen zusammenhielt.

Dieser Felssturz war Auftakt f¨¹r das Projekt PermaSense, ein ungew?hnliches, interdisziplin?r ausgerichtetes Forschungsvorhaben von Geo- und Ingenieurwissenschaftlern der ETH Z¨¹rich und weiterer Institutionen, darunter die Universit?ten Z¨¹rich und Basel. Das Projekt startete 2006 mit dem Ziel, Messungen und Beobachtungen zu erlauben, die bis zum damaligen Zeitpunkt nicht m?glich waren. Die Forschenden wollten mithilfe modernster Ger?te und Technologie in steilem Permafrost Messdaten in bisher unerreichter Menge und Qualit?t erheben.

Das ist ihnen nicht nur gelungen, die Forschenden haben das Ziel weit ¨¹bertroffen, wie sie nun in der Fachzeitschrift ?Earth System Science Data? berichten. Die Studie beschreibt einen einmaligen 10 Jahre umfassenden hochaufgel?sten Datensatz, den die Wissenschaftler im Hochgebirge am H?rnligrat des Matterhorns auf 3500 m ¨¹.M. erhoben haben. 17 verschiedenen Sensortypen an 29 Stellen am Grat und an der Abbruchstelle verteilt lieferten 115 Millionen einzelne Datenpunkte.

?Dieser Datensatz ist wohl einer der l?ngsten, dichtesten und diversesten Datens?tze in der Geschichte der Permafrostforschung ¨¹berhaupt?, sagt Jan Beutel, Senior Researcher am Institut f¨¹r Technische Informatik und Kommunikationsnetze der ETH Z¨¹rich, nicht ohne Stolz. Beutel war und ist die treibende Kraft hinter dem Vorhaben.

Durch den Einsatz modernster drahtloser Sensorik ist es den Forscherinnen und Forschern gelungen, sehr viele Daten von hoher Qualit?t zu erhalten, diese Daten in nahezu Echtzeit verf¨¹gbar zu machen und die laufenden Experimente genau zu ¨¹berwachen und zu steuern. ?Die kombinierte Analyse von Langzeitmessungen verschiedener Messsysteme f¨¹hrt zu einem vertieften Verst?ndnis von Prozessen, welche zur Destabilisierung von Felsw?nden f¨¹hren kann?, sagt Samuel Weber, der Projektpartner von Beutel und derzeit Postdoktorand an der TU M¨¹nchen.

Zum Sensornetzwerk z?hlt unter anderem eine automatische Spiegelreflexkamera, die alle zwei Minuten Bilder von der Abbruchstelle schiesst; Abstandsmessungen in Felsspalten (Crackmeter) geh?ren dazu, welche die Weitung von Kl¨¹ften und den Versatz von Felsbrocken zueinander messen. In verschiedenen Felstiefen, aber auch an der Oberfl?che werden Temperaturen gemessen. Permanent messen Neigungsmesser und GPS-Sensoren, wie sich einzelne Felsk?pfe und auch der ganze Grat talw?rts neigen. In den letzten Jahren erg?nzten die Forscher ihre Sensorenfamilie um Seismik- und Akustik-Messger?te.

Vom H?rnligrat gelangen die Messdaten ¨¹ber Funk zum Kleinen Matterhorn und von dort ¨¹ber das Internet praktisch in Echtzeit in ein Rechenzentrum der ETH Z¨¹rich. Dort werden sie gesammelt, analysiert und ausgewertet, seit nunmehr 10 Jahren permanent und beinahe ohne Unterbruch, sommers wie winters, zu jeder Tageszeit.

Resonanzen der Felsen messen

?Vor allem die Seismik hat es uns in den letzten drei Jahren der Messkampagne erlaubt, das zu messen, was wir von Anfang an wollten: Steinschlag und Felsst¨¹rze. Wir konnten damit in den Signalen vom Berg Muster erkennen, die solche Ereignisse quantitativ erfassbar machen?, sagt Beutel.

Mithilfe der seismischen Sensoren ist es ihnen gelungen, sehr viele Ereignisse ¨C etwa die anf?nglich unsichtbare Rissbildung in Felsen ¨C zu registrieren, welche die bisherigen Sensoren nicht erfassen konnten. ?Seismische Sensoren registrieren viel mehr und bieten Informationsdichten und Analysem?glichkeiten, die wir uns zuvor nicht vorstellen konnten?, sagt der Elektroingenieur. Der Nachteil dieser Sensoren: Sie brauchen Kabel, mehr Strom, tiefere Bohrl?cher, welche erst gebohrt werden mussten. Und sie zeichnen auch Signale auf, die gar nicht vom Berg stammen, etwa die Schritte der Bergsteiger auf ihrem Weg zum Gipfel.

St?rsignale von Bergsteigern

Dieses Hintergrundrauschen mussten die Forscher erst aus den Daten entfernen, mithilfe von maschinellem Lernen und klugen Algorithmen, welche von den aktuell am Projekt beteiligten ETH-Doktoranden direkt auf die drahtlosen Sensoren programmiert wurden. Zur ?berpr¨¹fung f¨¹tterten sie die Algorithmen unter anderem auch mit den Belegungsdaten der H?rnlih¨¹tte, wo Matterhorn-Besteiger ¨¹bernachten. Die Belegungsdaten dienen dabei als Anhaltspunkt, wann Menschen am Berg unterwegs sind und welche ?St?rsignale? von ihnen ausgehen.

Analysen der so ges?uberten Seismik-Daten zeigten Beutel ein interessantes Bild: ?Die Resonanzschwingungen, die in Felsen auftreten, variieren ¨¹ber das Jahr hinweg stark.? Das h?ngt mit dem Tauen und Gefrieren am Berg zusammen. Viele Kl¨¹fte und Risse sind mit Eis und Sedimenten gef¨¹llt. Dieses Gemisch ist im Winter steinhart gefroren. Im Sommer taut es auf, der Verbund in den Rissen ver?ndert sich. Dadurch wird der freistehende Teil des Felsens gr?sser, der Felsen schwingt mit einer tieferen Frequenz. Umgekehrt im Winter: Hier schwingt er mit einer h?heren Frequenz.

?Das funktioniert wie eine Gitarre ¨C je nachdem, wo man den Hals ergreift, ver?ndert man die Schwingungsl?ngen der Saiten, was andere T?ne erzeugt?, erkl?rt Beutel.

K¨¹nden Schwingungsmuster Felsabbruch an?

Sehr schnelle abrupte Ver?nderungen solcher Schwingungsmuster w¨¹rden darauf hindeuten, dass sich die Stabilit?t einer Felspartie rasch ver?ndert habe, sagt Beutel. Sinken die Frequenzen rasch, kann dies bedeuten, dass sich ein bestehendes Risssystem stark vertieft oder ge?ffnet hat. Und das bedeutet dann ein steigendes Risiko in Bezug auf einen gr?sseren Felssturz oder Abbruch.

?Wir k?nnen also mit seismischen und akustischen Messungen, gekoppelt mit Messungen von Spaltenweiten und Fotografien der Untersuchungsstelle, ziemlich genau abbilden, wie sich der Permafrost ver?ndert und Voraussagen machen, wo sich etwas anbahnen k?nnte?, sagt Beutel, ?ich halte dies f¨¹r eines der besten Resultate, die wir im Rahmen von PermaSense erzielten.?

Zu verdanken seien diese seinem Projektpartner Samuel Weber, der in den letzten drei Jahren seine wegweisende Dissertation zum Thema an der Universit?t Z¨¹rich abgeliefert habe, sagt Beutel, andererseits auch dem Einbezug des Schweizerischen Erdbebendienst rund um ETH-Professor Donath F?h, welcher das Wissen aus der Seismik eingebracht habe.

Sprunghaftes Aufreissen von Kl¨¹ften

Abgeschlossen ist die Messkampagne am Matterhorn nicht. Sie l?uft vorerst weiter. Das Knowhow vom ?Horu? m?chte Beutel gerne auch auf andere Projekte ¨¹bertragen. Das erworbene technische und geologische Wissen k?nnte f¨¹r die Naturkatastrophenvorhersage an kritischen Orten im steilen Gel?nde oder an Bergen genutzt werden. Eine Anwendungsm?glichkeit sieht er beispielsweise am Piz Cengalo im Bergell. Dort ereignete sich im Sommer 2017 ein gewaltiger Felssturz von mehreren Millionen Kubikmetern Umfang, der mehrere Menschen in Tod riss. Damit einhergehende Murg?nge zerst?rten Teile des Dorfes Bondo. Die Experten erwarten, dass es an diesem Berg noch zu weiteren Felsst¨¹rzen kommen wird. Sie ¨¹berwachen daher den Berg rund um die Uhr mit Radar. In-situ-Messungen fehlen aber bisher.

Beutel k?nnte sich vorstellen, ein Sensornetzwerk wie am Matterhorn am Pizzo Cengalo zu installieren und zu betreiben. Er versteht dies als einmalige Chance, mehr ¨¹ber die Vorg?nge in steilem Permafrost zu lernen, insbesondere ¨¹ber die Mechanismen, die steilen, gefrorenen Fels instabil werden lassen und zum Absturz bringen. ?Letztlich m?chten wir solche vernetzten Sensoren, wie wir sie in jahrelanger, interdisziplin?rer Arbeit entwickelt haben, auch f¨¹r die Naturgefahren-Vorhersage verwenden.?