Lebende Brücken
Mit neuen Materialien legen Forschende die Basis für lebendige Bauten, die auf ihre Umwelt reagieren. Geplant sind Infrastrukturen, die ihren Zustand kontinuierlich überwachen und sich sogar selbst reparieren k?nnen.
Wenn sie nicht Fachliteratur über schwingende Brücken, intelligente Infrastrukturen und datengetriebenes Engineering liest, vertieft sich Eleni Chatzi gerne in Science-Fiction-Romane. ?Ich mag es, über unkonventionelle Ideen nachzudenken und mir eine Welt vorzustellen, die es noch nicht gibt?, sagt die Professorin für Strukturmechanik und Monitoring, deren Professur seit 2010 durch die Albert Lück-Stiftung gef?rdert wird. Fast wie Science-Fiction h?rt es sich auch an, wenn sie darüber spricht, welche Anwendungen ihrer Forschung einst entspringen k?nnten. Zum Beispiel Brücken, die aus einer Hand voll Samen heranwachsen und vollst?ndig aus biologischem Material bestehen.
Das Fachgebiet der 38-j?hrigen Bauingenieurin ist das ?Structural Health Monitoring?. Mit Hilfe von Sensoren, Algorithmen für die Signalumwandlung und -verarbeitung sowie Maschinenlernen diagnostiziert Chatzi die Gesundheit von Staumauern, Brücken, Windr?dern, Flug- und Fahrzeugen. Bisher wurden die dafür notwendigen Spannungs-, Deformations-, Beschleunigungs-, Wind- und Dehnungsmesser entweder nachtr?glich angebracht oder beim Bau gleich mit eingeplant. ?Das ist jedoch meist ein Extraaufwand und gerade auf Baustellen ein St?rfaktor.? Zum Beispiel müssen unz?hlige Kabel verlegt werden, um die Messsignale zu einem zentralen Computer zu führen, wo sie analysiert werden. ?Wir m?chten deshalb Infrastrukturen und Maschinen mit einer intrinsischen Intelligenz entwickeln, die sich auch ohne von aussen angebrachte Sensoren ihres Zustands bewusst sind?, sagt Chatzi.
?Selbstbewusster? Beton
Die Basis für solche ?selbstbewussten? Infrastrukturen ist eine komplett neue Klasse von Materialien, an welcher seit einigen Jahren weltweit geforscht wird. Zum Beispiel ein Beton, der seinen Zustand selbstst?ndig überwachen kann. Dafür wird der ?intrinsic self-sensing concrete? mit Karbonfasern, Karbon-Nanor?hren und Nickelpulver versetzt. Durch Anlegen einer Spannung und durch konstante Messung des elektrischen Widerstands gibt dieses Material Auskunft über Risse, Feuchtigkeit oder ungew?hnlich hohe Beanspruchungen.
Ein zweiter Forschungsstrang, der in eine ?hnliche Richtung weist, sind Materialien mit selbstheilenden Eigenschaften. US-Forschende haben letztes Jahr ein Polymer vorgestellt, das sich durch Reaktion mit Kohlendioxid aus der Luft selbst reparieren kann. Pate dafür stand die Fotosynthese von Pflanzen. Andere Gruppen arbeiten mit Bakterien, die beim Kontakt mit Regenwasser und Feuchtigkeit Kalk bilden. Dem Beton beigemischt, k?nnen kleine Risse von alleine wieder geschlossen werden. Auch mit mikrovaskul?ren Netzwerken wird experimentiert, die bei einer Verletzung ?heilende? Flüssigkeiten abgeben, die polymerisieren und dadurch die Bruchstellen ausfüllen – nicht un?hnlich der Reaktion unseres Organismus nach einer Hautverletzung.
Biologische Funktionen einbauen
?Wir erleben eine Verschmelzung von Materialwissenschaften und Biologie?, sagt Mark Tibbitt, Professor am Macromolecular Engineering Laboratory der ETH Zürich. Früher h?tten Chemiker und Ingenieurinnen die natürliche Umwelt vor allem als Inspiration genutzt, um Eigenschaften wie die Wasserabweisung der Lotuspflanze nachzubauen. ?Heute versuchen wir die biologischen Funktionen in die Materialien einzubauen.? Voraussetzung dafür waren Durchbrüche in den Materialwissenschaften und der Biotechnologie: Mit DNA-Engineering und neuen molekularbiologischen Methoden wie der Genschere CRISPR/Cas k?nnen heute gezielt biologische Funktionen in Zellen eingebracht werden. Die additive Fertigung mittels 3D-Drucker wiederum erm?glicht datenbasiertes Materialdesign mit hoher Aufl?sung. Tibbitt verbindet in seiner Forschung Konzepte aus der Chemietechnik, der Polymerchemie, den Materialwissenschaften und der Systembiologie. Damit entwickelt er weiche, gewebe?hnliche Polymere für biomedizinische Anwendungen.
?Das faszinierende an lebendigen Organismen ist, dass sie ihre Umwelt wahrnehmen, auf sie reagieren und sich bei Verletzungen sogar selbst heilen?, sagt Tibbitt. ?Mit diesen Qualit?ten wollen wir Materialien und Infrastrukturen ausstatten.? Er gibt Beispiele für zukünftige Anwendungen: Zimmerpflanzen, die Luft reinigen und deren Qualit?t durch farbliche Ver?nderung der Bl?tter anzeigen. Oder Geb?ude, die sich für ein komfortables Klima im Inneren mit den Jahreszeiten ver?ndern.
Tibbitt lernte Eleni Chatzi vor einem Jahr auf einer Veranstaltung zum Ausloten von radikal neuen Forschungspfaden kennen. Obschon die beiden auf komplett unterschiedlichen Skalen arbeiten, sprechen sie oft von denselben Konzepten. Materialien, die sich selbst ?heilen?, geh?ren dazu. Nun lancierten sie einen ETH-internen Dialog über lebendige, selbstbewusste und selbstheilende Materialien und Infrastrukturen. Daran beteiligt sind Materialwissenschaftler, Chemie-, Bau- und Elektroingenieurinnen, Biologen und Computerwissenschaftlerinnen. Ziel ist es, Materialien von Beginn an über verschiedene Skalen hinweg zu entwickeln. ?Die ETH ist als Hub dafür pr?destiniert, weil sie grosse Kompetenzen in allen involvierten Bereichen hat?, ist Tibbitt überzeugt. Im Frühling 2020 soll ein erster Workshop mit Expertengespr?chen und einem Symposium stattfinden. Forschungsfragen sollen definiert und erste transdisziplin?re Projekte gestartet werden.
Leben mit lebendigen Umwelten
Das von Chatzi und Tibbitt mitgestaltete Forschungsfeld ist noch sehr jung, und die Fragen überwiegen derzeit noch die Antworten. Wie gew?hrleistet man zum Beispiel Sicherheit und Konstanz, wenn Infrastrukturen ein Eigenleben entwickeln? Wie reagieren Menschen und Tiere auf ihre gebaute Umwelt, wenn diese aus lebendigen Organismen besteht? Und was geschieht, wenn ein synthetischer Organismus aus einem neuen Baumaterial in umliegende Gew?sser gelangt? Für Tibbitt steht fest: ?Wir müssen von Beginn weg bioethische Fragen und Sicherheitssysteme mitdenken.?
Mit den Risiken sind aber auch grosse Chancen verbunden: Die Produktion von Beton verursacht heute rund acht Prozent des globalen CO2-Ausstosses. Ganze Sandstr?nde werden für den weltweiten Bauboom abgetragen. Und die Deponien für Bauschutt sind vielerorts überfüllt. Biologische Infrastrukturen mit geschlossenen Materialkreisl?ufen b?ten eine nachhaltige Alternative. Zum Beispiel Brücken aus einer ungew?hnlich festen Pflanzenfaser. Sie k?nnten sich bei Besch?digungen selbst reparieren und nach Ablauf ihrer Lebensdauer in kompostierbare Einzelteile zerfallen.
Dieser Text ist in der aktuellen Ausgabe des ETH-Magazins Globe erschienen.