Ablösen und heben statt bulldozern
Mit einem Computermodell konnten ETH-Forscher eine aktuelle Hypothese über die Entstehung der Alpen überprüfen und zugleich die Seismizit?t in der Schweiz simulieren. Das hilft unter anderem, aktuelle Modelle zur Erdbebengef?hrdung zu verbessern.
Lange gingen Erdwissenschaftler davon aus, dass die Alpen durch den Zusammenprall der adriatischen Platte im Süden und der europ?ischen Platte im Norden entstanden sind. Gem?ss dieser Lehrbuchmeinung schiebt die adriatische Platte Gesteinsmaterial wie ein Bulldozer vor sich her und türmt damit das Gebirge auf. Dessen Last drückt dann die darunterliegende kontinentale Platte nach unten. Als Folge davon bildet sich auf der Kruste angrenzend an das Gebirge ein Trog – das Schweizer Mittelland. Dieser Trog sinkt im Lauf der Zeit mit dem Rest der Platte tiefer ab.
Doch vor wenigen Jahren ?usserten der ETH-Geophysiker Edi Kissling sowie Fritz Schlunegger, ein Sedimentspezialist von der Universit?t Bern, aufgrund neueren geophysikalischen und geologischen Daten Zweifel an dieser Theorie. Die beiden Forscher postulierten deshalb einen alternativen Alpenbildungsmechanismus.
Unver?nderte Topografie und H?he machten stutzig
So zeigten Kissling und Schlunegger auf, dass die Topografie und die H?he der Alpen w?hrend der vergangenen 20 Mio. Jahren nahezu unver?ndert blieben. Der Mittelland-Trog hingegen senkte sich weiter ab. Dies deutet laut den Forschern darauf hin, dass die Entstehung der Zentralalpen und die Absenkung des Troges nicht wie bislang angenommen miteinander verbunden sind. Denn falls sich der Trog auf Grund des Zusammenpressens zweier Platten gebildet h?tte, müsste es Hinweise für ein stetiges Wachstum der Alpen geben - denn die Kollision der Platten, die Bildung des Trogs und die H?he des Gebirges sind gem?ss früherem Verst?ndnis der Alpenentstehung miteinander gekoppelt.
Eine m?gliche neue Erkl?rung liefert das Verhalten der europ?ischen Platte. Zun?chst schiebt sich der ozeanische Teil der europ?ischen Platte unter die Adriatische Mikroplatte im Süden. Als dann die Subduktion soweit fortgeschritten ist, dass der kontinentale Teil der europ?ischen Platte mit der Adriatischen Mikroplatte zu kollidieren beginnt, l?st sich in diesem Bereich die obere, leichtere Erdkruste von der schwereren, darunterliegenden Mantellithosph?re. W?hrend die Erdkruste aufgrund des geringeren Gewichts auftaucht und damit die Alpen buchst?blich aus der Taufe heben, sinkt die Mantellithosph?re weiter in den Erdmantel ab und zieht damit den angrenzenden Teil der Platte nach unten.
Das ist m?glich, weil die Alpen aus Gneisen und Granit zusammengesetzt sind. Diese Krustengesteine sind deutlich leichter als der Erdmantel, in den die untere Schicht der Platte, die Mantellithosph?re abtaucht. ?Dadurch entstehen starke Auftriebskr?fte, welche die Alpen herausheben?, erl?utert Edi Kissling. ?Die Alpen haben sich also aufgrund dieser Auftriebskr?fte gebildet, und nicht durch den Bulldozereffekt aufgrund der Kollision der beiden Kontinentalplatten.?
Neues Modell best?tigt Auftriebshypothese
Um die Auftriebshypothese zu untersuchen, hat nun Luca Dal Zilio, ehemaliger Doktorand bei ETH-Geophysikprofessor Taras Gerya, in Zusammenarbeit mit Edi Kissling und weiteren ETH-Forschern ein neues Modell entwickelt. Am ETH-Grossrechner ?Euler? hat Dal Zilio dann die Millionen von Jahren dauernden plattentektonischen Vorg?nge in der Subduktionszone unter den Alpen und die damit einhergehenden Erdbeben simuliert.
?Die grosse Herausforderung bei diesem Modell ist das ?berbrücken der Zeitskalen. Es berücksichtigt sekundenschnelle Verschiebungen, die sich in Erdbeben ?ussern, genauso wie Verformungen von Kruste und Mantellithosph?re im Laufe von Jahrtausenden?, sagt Dal Zilio, der Erstautor der Studie ist, die soeben in der Fachzeitschrift ?Geophysical Review Letters? erschien.
Die Simulation in einzelnen Schritten:
Vor 37 Millionen Jahren ist die Subduktion des schwereren ozeanischen Teils der Europ?ischen Platte (von links) unter die leichtere kontinentale Adriaplatte (rechts) im Süden voll im Gang. ?ber der Nahtstelle hat sich ein Gebirge (gelb, gestreift) gebildet, das erst als vereinzelte Inseln über Meeresniveau hinausragt. Hellgrün: Erdmantel; grünes Band: Lithosph?re; dunkelgrünes, schmales Band: ozeanische Kruste; rosa-weinrote Streifen: Untere Kruste. Graue Streifen: Obere Kruste.
In den n?chsten Jahr-Millionen verst?rkt sich die Krümmung der ozeanischen Platte, sie rollt sich quasi ein. Als Ganzes bewegt sich europ?ische Platte nicht von der Stelle. Dadurch entwickelt die abtauchende Platte eine Sogwirkung auf die viel kleinere Adriaplatte, was diese nordw?rts (im Bild nach links) zieht.
Als die Subduktion soweit fortgeschritten ist, dass der leichtere kontinentale Teil der europ?ischen Platte mit der Adriatischen Mikroplatte zu kollidieren beginnt, l?st sich in diesem Bereich die obere, leichtere Erdkruste von der schwereren, darunterliegenden Mantellithosph?re. W?hrend die Erdkruste aufgrund des geringeren Gewichts auftaucht, sinkt die Mantellithosph?re weiter in den Erdmantel ab und zieht damit den angrenzenden Teil der Platte nach unten.
Ein entscheidender Moment vor 30 Mio. Jahren vor unserer Zeit: Der vorderste Teil der eingetauchten Platte bricht ab. Dadurch verringert sich deren gigantisches Gewicht. Sie entspannt sich wie eine Blattfeder und zieht sich zurück. Das verst?rkt die Heraushebung des Gebirges, das fast bis zur heutigen H?he aufsteigt.
Die Subduktion der Restplatte setzt sich fort, wenn auch langsamer. Die Adriaplatte wird weiter nach Norden gesogen. An der Oberfl?che halten sich Hebung und Abtragung die Waage, sodass die Alpen w?hrend der letzten 30 Mio. Jahren ungef?hr gleich hoch bleiben.
Das Modell, so Edi Kissling, k?nne die von ihm und seinem Kollegen postulierten Hebungsprozesse sehr gut nachstellen. ?Der grosse Vorteil dieses Modells ist, dass es dynamisch ist?, sagt er. Frühere Modelle h?tten einen eher starren oder mechanischen Ansatz verfolgt, der Ver?nderungen im Verhalten der Platten nicht berücksichtigte. ?Alle unsere bisherigen Beobachtungen stimmen mit diesem Modell überein?, betont der Geophysiker.
Dem Modell liegen physikalische Gesetze zugrunde. So scheint zwar die europ?ische Platte nach Süden hin abzutauchen. Entgegen dem normalen Modell einer Subduktion bewegt sie sich hingegen nicht in diese Richtung, denn die Lage des Kontinents bleibt stabil. Das zwingt die subduzierende Lithosph?re dazu, gleichzeitig nach Norden zurückzuweichen. Dadurch übt die europ?ische Platte einen Sog auf die relativ kleine adriatische Platte aus. Diese sei vergleichbar mit einem untergehenden Schiff. Der Sog, der dabei entstehe, sei sehr stark, erkl?rt der ETH-Professor. Und er reiche aus, um die kleinere Adriatische Mikroplatte anzusaugen und mit der Kruste der Europ?ischen Platte kollidieren zu lassen. ?Der Mechanismus, welcher die Platten in Gang setzt, ist also kein Schieben, sondern ein Ziehen.? Der Motor hinter diesem Sog sei letzten Endes nichts Anderes als die Gravitation, die auf die abtauchende Platte wirke.
Seismizit?t neu betrachtet
Darüber hinaus bildet das Modell auch die Erdbebenverteilung, die sogenannte Seismizit?t, in den Zentralalpen, dem Mittelland-Trog und unter der Po-Ebene ab. ?Unser Modell ist denn auch der erste Erdbebensimulator für die Schweizer Zentralalpen?, sagt Dal Zilio.
Gem?ss dem Modell unterscheidet sich die Seismizit?t unter den Alpen stark von derjenigen, die unterhalb des Mittellandtrogs, dem Jurabogen sowie der Po-Ebene vorherrscht. Erdbeben treten demnach geh?uft und in geringer Tiefe unter den Alpen auf, unter dem Mittellandtrog und dem Jura aber kommen sie hingegen seltener und in gr?sserer Tiefe vor.
Der Vorteil dieses Erdbebensimulators ist, dass er eine sehr lange Zeitspanne umfasst. Damit bildet er auch sehr starke Beben ab, die ?usserst selten auftreten.
?Heutige seismische Modelle beruhen auf Statistik?, sagt Dal Zilio. ?Unser Modell hingegen basiert auf geophysikalischen Gesetzen und berücksichtigt deshalb auch Beben, die nur einmal in hunderten von Jahren auftreten.? Die aktuellen Erdbebenstatistiken würden solche Erdbeben eher untersch?tzen. Die neuen Simulationen verbessern daher die Einsch?tzung der Erdbebengef?hrdung in der Schweiz.
Das hat auch eine hohe praktische Bedeutung: Gef?hrdungsmodelle fliessen unter anderem in Vorschriften und Richtlinien zum erdbebensicheren Bauen oder in die Katastrophenvorsorge ein. Dennoch wird es weiterhin nicht m?glich sein vorherzusagen, wo und wann welche Erdbeben auftreten werden. ?Niemand kann bisher eine zuverl?ssige Erdbebenvorhersage machen?, betont Dal Zilio. ?Auch unser Modell kann das nicht.?
Alpenbildung und Erdbebengef?hrdung verstehen
Das Modell wurde im Rahmen der Forschungsinitiative ?AlpArray? erstellt. Diese europ?ische Projekt zielt auf ein besseres Verst?ndnis der Entstehung der Alpen sowie der seismischen Gef?hrdung des Alpenraums ab. Im Rahmen des Projekts installierten Wissenschaftler aus elf L?ndern und von 36 Institutionen 600 Sensoren rund um die Alpen. Damit ist dieses seismografische Netzwerk das gr?sste akademische der Welt. ?AlpArray? wird unterstützt vom Schweizerischen Nationalfonds.
Literaturhinweis
Dal Zilio L, Kissling E, Gerya T, van Dinther Y. Slab Rollback Orogeny Model: A Test of Concept. Geophysical Research Letters, Volume 47, Issue 18, 28 September 2020 externe Seite doi: 10.1029/2020GL089917