Der letzte Tribologe der ETH?
Der Materialwissenschaftler, Chemiker und international anerkannte Tribologe Nicholas Spencer wird bald emeritiert. Mit ihm geht m?glicherweise an der ETH ein Fachgebiet verloren.
Der Materialprofessor empf?ngt einen mit der Frage, ob er Züritütsch oder Englisch sprechen solle, sogleich aber in perfektem Dialekt weiterf?hrt. Diesen habe er sich beigebracht, um die Geheimsprache zu verstehen, der sich seine Kinder bedienten. Fast 30 Jahre ist das nun her, als Spencer mit seiner Familie in die Schweiz übersiedelte. ?Obwohl wir unter unserem Dach Englisch sprachen, verwendeten meine Kinder untereinander zunehmend Schweizer Dialekt. Also musste ich mich anpassen?, sagt er. Das ist heute kein Thema mehr für ihn, die Kinder sind l?ngst erwachsen – aber wenn sie zusammenkommen, sprechen sie immer noch Mundart miteinander.
Nun endet für Nic Spencer eine weitere ?ra. ?ber 27 Jahre lang war er Professor an der ETH Zürich, einer der ersten fünf Professoren in Materialwissenschaft am damaligen Departement Werkstoffe. Nun wurde er emeritiert, seine Abschiedsvorlesung wurde aufgrund der Corona-Krise auf das kommende Jahr verschoben. Mit Nicholas Spencer dürfte an der ETH auch ein Fachgebiet verschwinden: die Tribologie.
Tribologie – das ist die Wissenschaft von Reibung, Schmierung und Verschleiss. Spencer hat es in dieser Disziplin weit gebracht, er ist international anerkannt, ist seit Jahren Chefredaktor einer der führenden wissenschaftlichen Zeitschriften, organisiert internationale Kongresse darüber. Im letzten Herbst erhielt er eine der gr?ssten Ehrungen in seinem Fach, die externe Seite Goldmedaille der britischen Tribology Trust.
Explosives in Mutters Küche
Wissenschaft wurde ihm nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Er kam 1955 in England als Kind einer Modedesignerin und eines sprachbegabten Gesch?ftsmannes zur Welt. ?Ich hatte in der Familie kein einziges Vorbild, das mir die Wissenschaft n?hergebracht h?tte?, erinnert er sich.
Sein Interesse an Wissenschaft kam mit den ersten Raumf?hren und Satelliten auf. ?Der erste britische Kommunikationssatellit war <Telstar>?, sagt er. ?Da hat es mich gepackt.?
Zu seinem fünften Geburtstag erhielt er von seinen Eltern eine einfache Kamera. Mit sieben entwickelte er die Filme selbst. ?Die Chemie, die der Fotografie zugrunde liegt, faszinierte mich fast mehr als das Fotografieren?, r?umt er ein. Als Teenager habe er dann in Mutters Küche Chemieexperimente durchgeführt und verschiedene Substanzen wie Ester hergestellt. In die Luft geflogen sei nie etwas, obwohl er sogar Sprengstoffe gebastelt habe, schmunzelt er.
?In die Luft geflogen ist nie etwas, obwohl ich sogar Sprengstoffe gebastelt habe.?Nicholas Spencer
In der Schule konnte Spencer sein Interesse für Chemie vertiefen. ?Ich belegte Extrastunden im Labor, um Synthesen machen zu k?nnen.? Physik faszinierte ihn zunehmend auch. ?Als ich aber realisierte, dass sich Physiker für alles auf mathematische Erkl?rungen verlassen, wurde mir klar, dass ich mit diesen nie wirklich zufrieden war. Was mich an der Chemie wirklich reizte, war die Anwendung rigoroser Wissenschaft, um chemische Reaktionen tats?chlich visualisieren zu k?nnen?, sagt der ETH-Professor.
Sechs Jahre war Spencer in Cambridge, drei Jahre brauchte er für den Bachelor in Chemie, drei für die Promotion in Oberfl?chenchemie.
Rückkehr in die Akademie
Nach Abschluss seiner Doktorarbeit zog es den Briten als Postdoktorand nach Berkeley in die USA. Dann aber kehrte er der Akademie zeitweilig den Rücken. Er zügelte an die Ostküste der USA, um in Washington D.C. in der chemischen Industrie zu arbeiten.
Am Anfang habe alles gepasst, doch mit der Zeit st?rte sich Spencer zunehmend an der auf Kurzfristigkeit ausgelegten Forschungsphilosophie des Unternehmens. Er entschloss sich, in die Akademie zurückzukehren. Dieser Entscheid beruhte auch darauf, dass Washington D.C. zu jener Zeit die h?chste Mordrate in den USA aufwies.
In einem solchen Umfeld wollten er und seine Frau die beiden Kinder – mit dem dritten war sie schwanger – nicht aufwachsen sehen, obwohl er die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. Also streckte er seine Fühler nach Europa aus. Lange auf eine passende Stelle warten musste er nicht: 1992 schrieb die ETH Zürich eine Professur am noch jungen Departement Werkstoffe aus, Spencer bewarb sich und wurde angenommen. Im Mai 1993 konnte er an der ETH loslegen.
So siedelten sich die Familie Spencer in Zürich in einer ETH-Dienstwohnung an, sp?ter kauften sie sich ein Haus in Zollikon. Und seit 2013 ist er auch Schweizer Bürger: ?Ich habe nun drei P?sse, wobei sich der britische neulich als ?usserst nützlich erwies: Er verhalf mir Mitte Mai zu einem Rückflug aus Argentinien, welcher die britische Regierung für ihre Bürger organisierte?, sagt er verschmitzt.
Von der Oberfl?che aus in die Tiefe gehen
In seinem Forscherleben hat Spencer im wahrsten Sinn vor allem an der Oberfl?che geforscht. Physik, Chemie, die Aspekte aus der Ingenieurswissenschaft von seiner Zeit in der Industrie – all das floss in seine Studien ein: Er erforschte zahlreiche Aspekte der Tribologie, von Schmiermitteln auf Wasserbasis und Eisenbahnschienen bis hin zur Nachahmung von menschlichem Knorpel.
Ein Thema, an dem er lange dran war, war das sogenannte ?Biofouling?, also die Besiedlung von Oberfl?chen etwa von Schiffsrümpfen mit Bakterien, Algen und anderem Meeresgetier. Um dies zu verhindern, verwenden Schiffseigner bis heute teilweise hochgiftige schwermetallhaltige Farben.
Polymerbürsten schmieren Katheter
Als L?sung für das Biofouling, aber auch um Reibung zu verhindern, entwickelte Spencer nanoskopisch kleine Bürsten aus Polymerketten, die auf Oberfl?chen aufgebracht werden. Solche Polymerbürsten schützen nicht nur Schiffsrümpfe, sondern schmieren auch Werkzeuge für das Einsetzen künstlicher Ersatzlinsen fürs Auge oder Katheter, die m?glichst reibungslos in den menschlichen K?rper eingeführt und oder aus ihm entfernt werden müssen.
Die Polymerbürsten sind seit einiger Zeit in kommerziellem Einsatz, etwa auf Kontaktlinsen. Dort sorgen sie dafür, dass Proteine aus der Tr?nenflüssigkeit sich nicht anhaften k?nnen. ?Ich habe das Gebiet überhaupt nicht erfunden, aber all meine Mitarbeitenden und ich haben sehr viel geforscht, um Polymerbürsten in echten Anwendungen nutzen zu k?nnen.?
Zwei seiner ehemaligen Postdoktoranden nutzten denn auch das in Spencers Gruppe erworbene Fachwissen und gründeten vor über zehn Jahren die Firma ?SuSoS?, welche Polymerbürsten für die Augenchirurgie kommerzialisierte. Spencer ist nach wie vor im wissenschaftlichen Beirat der Firma und m?chte sich nach seiner Pensionierung mehr in deren Forschung und Entwicklung einbringen. ?Das w?re sch?n, die Anwendungen weiterzutreiben, mit denen ich mich bisher vor allem theoretisch besch?ftigt habe.?
Tribologie f?llt weg
Mit Spencer wird das tribologische Wissen und der ganze Fachbereich von der ETH wegfallen. Einen Teil seiner Ger?te hat er Kollegen an der Empa weitergegeben. Er bedauert dies einerseits, denn: ?Tribologie liefert eine Grundlage zur effizienten Nutzung von Energie und damit einen Beitrag zur Reduktion von Treibhausgasen?, gibt er zu bedenken. Aber die ETH müsse Entscheidungen treffen, wenn Professoren ersetzt würden.
?Tribologie liefert eine Grundlage zur effizienten Nutzung von Energie und damit einen Beitrag zur Reduktion von Treibhausgasen.?Nicholas Spencer
Als langj?hriger Leiter der ETH-Forschungskommission kennt Spencer solche Dilemmata nur zu gut aus eigener Erfahrung. W?hrend 12 Jahren war er Mitglied dieser wichtigen Kommission, acht Jahre deren Vorsitzender. Einfluss übte er auch auf Berufungen aus, 20 Jahre war er Delegierter des Pr?sidenten in Berufungskommissionen. Und dreimal stand Spencer dem Departement vor; einmal ganz zu Beginn seiner Karriere, als ?alle Professoren noch in meinem Auto Platz hatten?, sagt er.
Langweilig wird es ihm nicht
Nic Spencer wird der ETH trotz baldiger Pensionierung nicht ganz abhandenkommen. Weiterhin h?lt er Vorlesungen auf Master-Stufe, bis auch dieser Studiengang überarbeitet sein wird. Den Bachelor-Studiengang hat das Departement bereits angepasst und startet ihn im kommenden Herbst.
Dennoch freut er sich auf mehr Freiheit, die er nutzen m?chte, um ?fter seinen Hobbies nachzugehen, Tangotanzen etwa. Schon bisher ist der Materialprofessor mehrfach nach Argentinien gereist, um dort zu tanzen, jüngst im M?rz, als sich ein zweiw?chiger Ferienaufenthalt in eine zwei Monate dauernde Quarant?ne verwandelte. Seine Spanischkenntnisse m?chte er auch erweitern, da er viel im spanischen Sprachraum unterwegs sei. Unter anderem, um einem weiteren Interesse zu fr?nen, der ?nologie – ?ich besuche regelm?ssig Weingüter in Spanien und in Argentinien?, sagt er. Langweilig wird es Nicholas Spencer mit Sicherheit nicht.