Pfade zu einer ganzheitlichen Pestizid-Politik
Mit Verboten und einfachen Massnahmen allein l?sen wir die Probleme im Pflanzenschutz nicht. Robert Finger fordert eine umfassende Pflanzenschutzmittel-Politik.
Dass Handlungsbedarf besteht, ist unbestritten. Doch damit ist das Dilemma der Landwirtschaft noch nicht gel?st: Sie muss ihre Kulturen vor Krankheiten und Sch?dlingen schützen – aber viele Pflanzenschutzmittel gef?hrden potenziell die Umwelt und unsere Gesundheit. Diese Risiken gilt es massiv und schnell zu senken.
Wie dies gelingen kann, wird derzeit in der Schweiz und in ganz Europa intensiv diskutiert. Zu Recht: Trotz ambitionierter Pl?ne konnte bislang kaum ein europ?isches Land Risiken beim Einsatz von Pflanzenschutzmitteln verringern. Auch in der Schweiz werden in Gew?ssern und im Grundwasser regelm?ssig Grenzwerte überschritten. Hierzulande stehen mit der Trinkwasser- und der Pestizidinitiative gleich zwei Volksbegehren an, die den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in der Landwirtschaft massiv reduzieren oder g?nzlich verbieten wollen.
Pflanzenschutz ist jedoch komplex. Um Risiken effektiv und effizient zu senken, braucht es eine umfassende Sicht: Wir müssen Pflanzenschutz ganzheitlich betrachten und dazu von den Bauern über Beh?rden bis zu den Konsumentinnen alle Akteure einschliessen. Wie eine derartige Pflanzenschutzmittel-Politik aussehen k?nnte, haben wir in einem interdisziplin?ren Team in einer Perspective im Fachmagazin Nature Food skizziert.1
Risikobasierte Reduktionsziele setzen
Um Risiken zu reduzieren, muss man diese auch messen. In der Praxis erfolgt dies derzeit oft anhand der ausgebrachten Menge eines Mittels, ohne die Toxizit?t zu beachten. Das bildet insbesondere extreme Risiken unzureichend ab (siehe diesen Blogbeitrag). Es ist daher ratsam, risikobasierte Indikatoren zu verwenden, die das Schadenpotenzial für Mensch und Umwelt berücksichtigen.
Eine wirksame Pflanzenschutzmittelpolitik muss messbare, transparente und verbindliche Ziele definieren, um die Risiken zu senken. Solche fehlen heute in vielen EU-L?ndern und in der Schweiz.
Wer Ziele setzt, sollte regelm?ssig überprüfen, ob sie erreicht werden, und die Ergebnisse ?ffentlich zug?nglich machen. Wann, wo und in welchen Mengen Pflanzenschutzmittel genau zum Einsatz kommen, ist heute allerdings von den wenigsten L?ndern bekannt. Hier braucht es mehr Transparenz.
Alternative Ans?tze nutzen
Verschiedene Praktiken und Technologien bergen das Potenzial, Pflanzenschutzmittel teilweise zu vermeiden oder ganz zu ersetzen. Agrar?kologische Ans?tze müssen auch in der konventionellen Landwirtschaft vermehrt zum Standard werden – etwa artenreichere Anbausysteme mit breiteren Fruchtfolgen, die den Krankheits- und Sch?dlingsdruck verringern, und Methoden, welche die verbleibenden Sch?dlinge biologisch bek?mpfen.
Zus?tzlich erlauben es neue molekularbiologische Methoden, gegen Krankheiten und Sch?dlinge resistente Sorten effizienter als bisher zu züchten. In der EU und in der Schweiz sind solche Züchtungsmethoden jedoch restriktiv reguliert – wir sollten diese neuen M?glichkeiten auch im Kontext nachhaltigeren Pflanzenschutzes offener bewerten.
Weiter f?llt der Digitalisierung eine zentrale Rolle zu. Die Pr?zisionslandwirtschaft erlaubt es zum Beispiel auch mittels autonomer Roboter und Drohnen gezielt Unkr?uter, Sch?dlinge oder Krankheiten zu bek?mpfen, indem sie bei Bedarf punktgenau spritzen oder mechanisch j?ten. Diese Technologien für einen smarten Pflanzenschutz gilt es weiterzuentwickeln und zu f?rdern.
?Lenkungsabgaben k?nnen den entscheidenden Anreiz geben, damit Landwirte gef?hrliche Pestizide durch weniger sch?dliche Mittel ersetzen.?Robert Finger
All das wird den Bedarf an Pflanzenschutzmitteln weiter senken. Trotz des Potenzials setzen Betriebe solche Ans?tze heute aber noch zu selten ein. Weil es sich oft nicht lohnt (aber lohnen sollte), oder weil spezifisches Know-how fehlt.
Anreize für Ver?nderungen setzen
Neue Technologien, und seien sie noch so vielversprechend, sind wirkungslos, wenn Landwirte sie nicht annehmen. Heute sind Pflanzenschutzmittel generell zu billig, potenzielle Sch?den für Mensch und Umwelt nicht in Preisen integriert. Hier k?nnen Lenkungsabgaben den entscheidenden Anreiz geben, damit Landwirte sch?dliche Pflanzenschutzmittel durch weniger sch?dliche Mittel ersetzen, oder ganz auf sie verzichten. D?nemark hat es beispielsweise geschafft, die Risiken von Pflanzenschutzmitteln mit einer Lenkungsabgabe in fünf Jahren um mehr als 30 Prozent zu reduzieren.2
Webinar zur Pestizid-Politik
Das World Food System Center und die Gruppe für Agrar?konomie und -politik führen am Dienstag 20. Oktober 2020 mit den Autoren des Artikels ein ?ffentliches Webinar zu ?Pathways for advancing pesticide policies? durch. Mehr Informationen und M?glichkeiten zur Registrierung finden Sie hier
Wenn es zus?tzlich darum geht, Bauern zum Umstieg auf alternative Praktiken und neuen Technologien zu bewegen, erweist sich eine Kombination von Lenkungsabgaben mit Direktzahlungen, spezifischen Versicherungen und unabh?ngiger Beratung als wirksam. Nachhaltiger Pflanzenschutz sollte aber auch von der Nahrungsmittelindustrie und Konsumenten mitgetragen werden3.
Langfrist-Perspektive auf die Pestizid-Politik
Gewiss: Jede striktere Pflanzenschutzmittel-Politik ruft kurzfristig unweigerlich Konflikte mit anderen agrarpolitischen Zielen hervor. Verzicht auf Pflanzenschutzmittel kann den Ertrag schm?lern oder die Klimabilanz verschlechtern. Verbote spezifischer Spritzmittel k?nnen Resistenzen f?rdern oder zu riskanteren Ersatzpraktiken führen. Diese Zielkonflikte lassen sich jedoch überwinden.
Dazu braucht es einen übergeordneten ern?hrungspolitischen Rahmen, der die wichtigsten Spannungsfelder berücksichtigt. Er sorgt für eine langfristige Perspektive und erlaubt es idealerweise, Akteure entlang der Wertsch?pfungskette zusammenzubringen und gegenl?ufige Interessen auszutarieren.
Wir sollten eine Agrarpolitik anstreben, die einen solchen Rahmen geben kann – auch in der Schweiz. Die EU hat kürzlich ihre ?From Farm to Fork?-Strategie pr?sentiert, welche nachhaltigere Nahrungsmittelsysteme schaffen und Risiken des Pestizid-Einsatzes massiv senken soll. Beides bietet eine ideale Gelegenheit, um Pflanzenschutz neu zu denken.
Robert Finger hat diesen Blogbeitrag gemeinsam mit Niklas M?hring verfasst. Ferner haben Achim Walter, Bruno Studer und Michael Siegrist dazu beigetragen.
Referenzen
1 M?hring, N., Ingold, K., Kudsk, P., Martin-Laurent, F., Niggli, U., Siegrist, M., Studer, B., Walter, A. & Finger, R. Nature Food 1, 535–540 (2020). externe Seite Pathways for advancing pesticide policies. DOI: externe Seite 10.1038/s43016-020-00141-4
2 zum Beispiel: Pedersen, A. B., Nielsen, H. ?., & Daugbjerg, C. (2020). Environmental policy mixes and target group heterogeneity: analysing Danish farmers’ responses to the pesticide taxes. Journal of Environmental Policy & Planning, 1-12.
3 Ein positives Beispiel ist die grossfl?chige Produktion von ?pestizidfreiem Weizen? der Produzentenvereinigung IP-SUISSE: https://aecp.ethz.ch/research/PestiFreeWheat.html