Zellen auf der Flucht
Viele K?rperzellen müssen sich durch Gewebe bewegen und sich manchmal aus engen Stellen befreien k?nnen. Ein internationales Forscherteam unter Co-Leitung der ETH Zürich hat nun untersucht, wie Zellen Engp?sse erkennen und ihnen entschlüpfen. Damit liefert das Team unter anderem neue Anhaltspunkte für die Verbesserung der Immuntherapie.
In unserem K?rper liegen die Zellen in Haut, Knochen, Muskeln, Blutgef?ssen und Organen dicht nebeneinander – ganze 100 Billionen davon in einem menschlichen K?rper. Durch diese eng gepackte Umgebung müssen sich manche Zellen hindurchschl?ngeln k?nnen – allen voran die Immunzellen, die durch Gewebe patrouillieren, um Krankheitserreger oder defekte Zellen aufzuspüren. Dabei helfen ihnen bestimmte F?higkeiten. So weiss man seit kurzem, dass Immunzellen Engstellen in ihrer N?he wahrnehmen und diesen ausweichen k?nnen. Doch unsere K?rperzellen k?nnen nicht nur ihre Umgebung, sondern auch sich selbst vermessen: Sie registrieren, sobald sie in einer Engstelle zu stark zusammengedrückt werden und aktivieren einen Fluchtmechanismus.
Diesen Mechanismus hat die Gruppe von Daniel Müller am Departement für Biosysteme der ETH Zürich in Basel nun zusammen mit einem internationalen Team von Wissenschaftlern, unter anderem von der Université Paris Science & Lettres und des Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases in Wien, genauer untersucht und im Fachmagazin externe Seite Science ver?ffentlicht. Die Ergebnisse k?nnten in Zukunft bei der Verbesserung der Immuntherapie bei Krebserkrankungen helfen.
Aus der Enge raus
Entscheidende Beobachtungen erm?glichte ein spezielles Rasterkraftmikroskop an der ETH. In dieses hatte der Biophysiker Cédric Cattin, damals Postdoktorand in Müllers Gruppe, eine selbst entwickelte Mikrofeder aus Glas eingebaut. Mit dieser feinen Messapparatur konnten die Forschenden einzelne Zellen sehr pr?zise und schrittweise zusammendrücken und im Mikroskop beobachten, wann und wie die Zellen auf die Deformierung reagierten. Das Ger?t registrierte dabei nicht nur die Kraft, mit der die Mikrofeder auf eine Zelle drückte, sondern auch, ob die Zelle selbst einen Gegendruck erzeugte.
So stellte sich heraus, dass die Zellen zwar einigen Druck ohne Gegenwehr tolerieren. ?Alle untersuchten Zellen liessen sich von ihrer normalen Kugelform mit einem Durchmesser von etwa 25 Mikrometer auf eine flachere Form mit einer H?he von 10 Mikrometer zusammendrücken?, sagt ETH-Professor Daniel Müller. Wurden die Zellen aber weiter eingeschr?nkt, reagierten sie: Sp?testens, wenn sie bis auf fünf Mikrometer flachgedrückt waren, erzeugten sie einen Gegendruck und setzten sich gleichzeitig in Bewegung, um der Engstelle zu entschlüpfen.
Der Zellkern als Massstab
In weiteren Untersuchungen stellte das Team fest, dass der Zellkern für diese Fluchtreaktion verantwortlich ist – genauer, dessen Hülle. Diese enth?lt im Normalfall Falten, ?hnlich wie die Haut über unseren Fingergelenken. Sobald aber eine Zelle so weit zusammengedrückt wird, dass sich auch der Zellkern deformiert, entfaltet und dehnt sich die Kernhülle. ?Diese Dehnung der Hülle gibt das Startzeichen für die Fluchtreaktion?, erkl?rt Müller. Aus der gestreckten Hülle entweichen Calcium-Ionen, die ein bestimmtes Enzym aktivieren, welches wiederum eine Reaktion in Gang setzt, die das Actomyosin-System der Zelle einschaltet. Dieses ist für die Bewegungen der Zelle zust?ndig und l?st im Gerüst der Zellen Kontraktionen aus. Dadurch bauen diese einen Gegendruck auf und entweichen.
?Der Zellkern wirkt also wie ein Massstab, der bestimmt, ab wann es für die Zelle zu eng wird?, erkl?rt Müller. Besonders gut sichtbar wird dieser Mechanismus unter dem Rasterkraftmikroskop, wenn die beiden Proteine Actin und Myosin mit Fluoreszenzfarbstoffen versehen sind. Sobald die Hülle des Zellkerns gedehnt wird, bilden sich explosionsartig ganze Blasen dieser beiden Proteine in der Zelle.
Ans?tze für eine bessere Immuntherapie
Ihre Ergebnisse aus den Experimenten mit der Mikrofeder best?tigten die Forschenden daraufhin in weiteren Versuchen. Unter anderem schickten sie Zellen in mikrofeinen Glaskapillaren durch Engstellen oder beobachteten deren Bewegungen in unterschiedlich dichten Zellkulturen. Auch hier entwichen die Zellen aus Engp?ssen zwischen fünf und zehn Mikrometern durch eine unvermittelte Aktivierung des Actomyosin-Systems. Dieses Verhalten beobachteten die Forschenden zudem bei allen der getesteten Zelltypen, darunter etwa Tumorzellen oder Immunzellen aus M?usen. ?Wir folgern daraus, dass wohl die meisten Zelltypen diese F?higkeit besitzen?, sagt Müller.
Die neuen Erkenntnisse liefern Hinweise für verschiedene Anwendungen, etwa für die Forschung an künstlichen Geweben. Um solche Gewebe – künstliche Haut oder Organe – in die gewünschte Form zu bringen, werden K?rperzellen auf einem synthetischen Gerüst gezüchtet, Matrix genannt. Die neuen Beobachtungen zur Bewegung von Zellen dürften beim Design solcher Matrices helfen. Auch für die Immuntherapie, die seit einigen Jahren als grosse Hoffnung in der Krebsmedizin gilt, k?nnten die Ergebnisse nützlich sein. Dabei werden k?rpereigene Immunzellen dazu angeregt, Tumorzellen zielgerichteter anzugreifen. Allerdings ist es für die Immunzellen manchmal schwierig, überhaupt zu den Krebszellen durchzudringen, da ein Tumor dichter wuchert als gesundes Gewebe. Um dies zu verbessern, sagt Müller, k?nnten Forschende künftig beim aufgedeckten Fluchtmechanismus ansetzen.
Literaturhinweis
Lomakin AJ, Cattin CJ, Cuvelier D, Alraies Z, Molina M, Nader GPF, Srivastava N, Saez PJ, Garcia-Arcos JM, Zhitnyak IY, Bhargava A, Driscoll MK, Welf ES, Fiolka R, Petrie RJ, De Silva NS, González-Granado JM, Manel N, Lennon-Duménil AM, Müller DJ, Piel M: The nucleus acts as a ruler tailoring cell responses to spatial constraints. Science, 15. Oktober 2020, doi: externe Seite 10.1126/science.aba2894