«Mit diesem Szenario hat kaum jemand gerechnet»

ETH-News: Herr Wenger, das Bulletin 2020 zur schweizerischen Sicherheitspolitik des Center for Security Studies (CSS) steht ganz im Zeichen der Corona-Krise. Was haben Sie untersucht?
Andreas Wenger: Wir befassen uns seit vielen Jahren mit dem Thema Krisenmanagement. Die Corona-Krise ist nicht nur eine grosse gesellschaftliche Herausforderung, sondern auch ein wissenschaftlich interessantes Fallbeispiel. In einer laufenden Pandemie das Krisenmanagement zu studieren, ist allerdings nicht einfach. Deshalb haben wir uns auf die Vorbereitung auf Pandemien und die erste Welle im Fr¨¹hjahr konzentriert.

Auf welche Informationen st¨¹tzen Sie sich?
Neben historischen Materialien studierten wir die Protokolle der Krisenst?be und f¨¹hrten eine Reihe von Experteninterviews. Zur Einordnung haben wir dann auf etablierte Erkenntnisse aus der Krisen- und Katastrophenforschung zur¨¹ckgegriffen.

Was hat Sie am meisten ¨¹berrascht?
Diese Frage haben wir den Experten auch gestellt. Die h?ufigste Antwort war: Die Pandemie verl?uft anders als erwartet. Das liegt auch daran, dass sich die Schweiz auf eine schwere Influenza-Pandemie vorbereitet hat. Das Szenario geht davon aus, dass man wahrscheinlich in vier Monaten einen Impfstoff haben wird. Doch pl?tzlich war alles anders: Es war ein neues Virus mit unklaren Krankheitsverl?ufen und einer h?heren Ansteckungsrate und Mortalit?t. Zugleich lag eine Impfung in weiter Ferne. Die meisten Regierungen ergriffen drastische Massnahmen, es wurden Ausgangssperren verh?ngt und Grenzen geschlossen, der Markt f¨¹r Medizinalg¨¹ter brach zusammen ¨C mit diesem konkreten Szenario hat kaum jemand gerechnet.

Dennoch kommen Sie zum Schluss, die Schweiz habe sich Ende 2019 in einer ?soliden Ausgangslage? befunden.
Der Schweiz wurde von der WHO 2017 attestiert, sie sei gut auf eine gesundheitliche Notlage vorbereitet. Das Bewusstsein f¨¹r das Risiko ?Pandemie? hat in den letzten 25 Jahren stark zugenommen. Da Pandemien eine globale Herausforderung darstellen, hat man die F¨¹hrungs- und Koordinationsfunktion des Bundesrates gest?rkt. Das Drei-Phasen-Modell des Epidemiengesetzes mit der normalen, besonderen und ausserordentlichen Lage tr?gt dem Rechnung. Man war also gut vorbereitet ¨C aber eben eher auf ein Grippeszenario als ein Virus, wie wir es nun haben.

H?tte man nicht mit einem solchen Virus rechnen m¨¹ssen?
Wir sollten die Sache aus der damaligen Perspektive beurteilen, nicht aus der heutigen Sicht. Nat¨¹rlich wusste man in Fachkreisen, dass so etwas passieren k?nnte. Aber es w?re schwierig gewesen, die Politik von der Vorbereitung auf ein solch extremes Szenario zu ¨¹berzeugen. F¨¹r die Zukunft muss man sich fragen, ob man die Pandemievorbereitung nicht generischer auslegen sollte. Die WHO hat dies schon 2017 angeregt. Allerdings hat eine generische Planung auch ihre Nachteile.

Wie haben fr¨¹here Epidemien die Vorbereitung gepr?gt?
Wichtig waren die Erfahrungen w?hrend der Schweinegrippe 2008/09. Der Bund hat fr¨¹h Impfdosen gekauft und wurde danach kritisiert, weil die Schweinegrippe ¨¹berraschend mild verlief. In der Folge verlor die vorbeugende Pandemiebek?mpfung an politischer und gesellschaftlicher Unterst¨¹tzung. Das verdeutlicht das grunds?tzliche Dilemma.

Was meinen Sie damit?
Man riskiert in einer solchen Situation immer, zu viel oder zu wenig zu machen. Bei der Schweinegrippe hat man in der ?ffentlichen Wahrnehmung zu viel gemacht. Aber das ist die Einsch?tzung im R¨¹ckblick. H?tten die Beh?rden zu wenig gemacht, w?ren sie auch kritisiert worden.

Im Bulletin wird das heikle Zusammenspiel von Bund und Kantonen immer wieder thematisiert. Wo liegt das Problem?
In unserem politischen System sind die Verantwortlichkeiten f¨¹r die Bew?ltigung einer Pandemie auf verschiedenen Ebenen angesiedelt. Der Bundesrat definiert die Ziele und die Strategie, die Kantone setzen um. Da Pandemien unberechenbar sind, betont der Pandemieplan die Fr¨¹herkennung und damit verbunden eine rasche Anpassung der Planungsgrundlagen. Ein solches Vorgehen braucht bereits in der Planungsphase viel Koordination. Die Experten erkennen zwar die Schw?chen in der Vorbereitung, k?nnen aber ohne den Druck der Krise die H¨¹rden des F?deralismus und die Grenzen zwischen den 2024Å·ÖÞ±­¿ª»§_Å·ÖÞ±­APPÏÂÔØ-Ͷע|¹ÙÍøn nicht einfach so ¨¹berwinden. Dazu sind sich auch nicht legitimiert.

Das ist einer der Gr¨¹nde, warum die Schweiz im Januar und Februar eher z?gerlich reagierte, so wie fast alle europ?ischen L?nder, obwohl die WHO bereits im Januar dazu aufforderte, das Krisenmanagement auf der h?chsten politischen Ebene zu aktivieren. Die Fachebene hat die Signale durchaus gesehen, aber solange das Thema nicht auf der politischen Ebene ankam, kam es nur in Ans?tzen zu einer koordinierten Anpassung der Planungsgrundlagen.

H?tten die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte nicht schon bei der Vorbereitung auf eine Pandemie st?rker ber¨¹cksichtigt werden m¨¹ssen?
Das h?ngt mit dem Szenario zusammen, von dem man ausging. Man hat nicht vorhergesehen, dass die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Massnahmen, die zur Bek?mpfung der Pandemie ergriffen wurden, derart gravierend sein w¨¹rden. Erst in der ausserordentlichen Lage konnte der Bundesrat dann eine Gesamtstrategie andenken. Er hat sich auf eine Bew?ltigungsstrategie geeinigt und schnell flankierende Massnahmen zugunsten der Wirtschaft beschlossen. Doch das war eben erst in der ausserordentlichen Lage m?glich, in der der Bundesrat als Kollegialregierung f¨¹r die Gesamtkoordination zust?ndig ist und ¨¹ber die eingespielten Mechanismen der ?mterkonsultation f¨¹hrt.

Ein wichtiger Punkt ist die Finanzierung. Das f¨¹hrt zwischen Bund und Kantonen regelm?ssig zu Diskussionen.
Die Kostenfrage darf nicht untersch?tzt werden. Die Kantone beschwerten sich, sie w¨¹rden nicht gen¨¹gend einbezogen. Aus Sicht des Bundes dominierte hingegen der Zeitdruck. Man hat das in der ausserordentlichen Lage so gel?st, dass der Bund die Massnahmen vorfinanziert und die Kostenteilung sp?ter geregelt wird.

Wie funktionierte das Krisenmanagement auf der operativen Ebene?
In der Krise fanden die operativen Krisenmanager oft zu pragmatischen L?sungen. Dennoch funktionierte einiges nicht optimal. Das Problem ist, dass in der normalen, besonderen und ausserordentlichen Lage jeweils andere Organe zum Einsatz kommen. Der Bundesrat sollte in der besonderen Lage gem?ss Epidemiengesetz durch ein Einsatzorgan unterst¨¹tzt werden. Lange war nicht klar, welcher Krisenstab diese Funktion ¨¹bernehmen soll.

Das hat man nicht vorg?ngig festgelegt?
Nein, das wurde nicht im Detail festgelegt. Dies auch daher, weil sich die Krisenorganisation des Bundes in den letzten Jahren dynamisch weiterentwickelte. Man hat zum Beispiel einen Ad-hoc-Krisenstab mit einem unspezifischen Mandat einberufen, weil andere St?be nicht richtig funktionierten. Das f¨¹hrte auf der operativen Ebene zu einem wackligen Gebilde.

Auch die Einberufung einer wissenschaftlichen Task Force war nicht vorgesehen. Wie beurteilen Sie den Einsatz dieses Gremiums?
Die Task Force leistet anerkanntermassen wichtige Beitr?ge. Es ist richtig, dass sie auf der strategisch-politischen Ebene angeh?ngt ist und nicht auf der operativen. Als Sozialwissenschaftler finde ich allerdings, dass sie breiter abgest¨¹tzt sein sollte. Sie deckt fachlich nicht den gesamten Prozess von der Datenerhebung bis hin zur Integration in die politischen Prozesse und die Kommunikation mit der Bev?lkerung ab.

W¨¹rde die Task Force damit nicht noch st?rker in das politische Geschehen involviert?
Die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik ist immer diffizil. Die Wissenschaft muss evidenzbasierte Grundlagen zur Verf¨¹gung stellen, die Politik hingegen Entscheide f?llen. Das f¨¹hrt zwangsl?ufig zu Friktionen. Daher ist es sinnvoll, wenn man sich ¨¹ber die unterschiedlichen Rollen im Voraus verst?ndigt.

Ein wichtiges Thema ist die Kommunikation. Welches Fazit ziehen Sie da?
Die Krisenkommunikation ist ein Bereich, den man gut vorbereiten muss. Man hat aus der Schweinegrippe viel gelernt. W?hrend der ausserordentlichen Lage erwies sich der Pandemieplan in diesem Punkt als sehr tragf?hig. Die Kommunikation wurde an wenigen Personen festgemacht, man hat einfache, klare Botschaften vermittelt und immer wieder auf Unsicherheiten hingewiesen. Das Vertrauen in den Bundesrat und die Beh?rden hat in dieser Phase zugenommen, die Bev?lkerung verhielt sich diszipliniert.

Wie sehen Sie die Kommunikation in der jetzigen Lage?
In der besonderen Lage, die wir jetzt haben, ist die Kommunikation viel anspruchsvoller. Die Kantone m¨¹ssen regionale Massnahmen kommunizieren, w?hrend der Bund f¨¹r die Koordination der Gesamtstrategie zust?ndig ist. Sie m¨¹ssen zudem bedenken: Man war auch nicht darauf vorbereitet, dass man eine derart lange Krise kommunikativ begleiten muss, in der es immer wieder ein Auf und Ab von Lockerungen und erneuten Versch?rfungen gibt.

Welche Schl¨¹sse ziehen Sie aus all diesen Erkenntnissen?
Die Schweiz hat in der ersten Phase der Corona-Krise viele Ad-hoc-L?sungen eingef¨¹hrt. Wir m¨¹ssen nun ¨¹berlegen, welche L?sungen wir verstetigen wollen. Zentral scheint mir, dass man die Vorsorgeplanung, die Krisenorganisation und den Gesundheitsbereich genauer anschaut. Bei der Vorsorgeplanung und beim Gesundheitsbereich m¨¹ssen die Zust?ndigkeiten zwischen Bund und Kantonen klarer geregelt werden. Bei der Krisenorganisation braucht es eine Gesamtkonzeption ¨¹ber die drei Phasen der normalen, besonderen und ausserordentlichen Lage hinweg.