Wir sollten verdeckte Infektionen aufspüren
Breites und wiederholtes Testen auch von gesunden Personen ist ein wirksames Mittel im Kampf gegen Covid-19, schreiben Patrick Jenny und Wolf-Dietrich Hardt. Damit haben wir eine Chance gegen die neuen ansteckenderen Virusvarianten.
Der Kanton Graubünden führte seit Dezember mehrmals regional begrenzte Sars-CoV-2-Massentests durch. Dabei konnte sich jeweils die ganze Bev?lkerung kostenlos auf das Pandemievirus testen lassen, und zwar ungeachtet, ob jemand typische Covid-Symptome zeigte oder nicht.
Wir schlagen vor, diesen Ansatz weiterzuentwickeln, indem man Bev?lkerungsgruppen regelm?ssig in Abst?nden von wenigen Tagen oder Wochen testet. Eine solche Strategie k?nnte massgeschneidert und flexibel an das Infektionsgeschehen angepasst werden und den Kanon der Covid-19-Massnahmen erg?nzen. Lokal begrenzte Ausbrüche, steigende Fallzahlen in einem ganzen Kanton oder dem ganzen Land liessen sich so gezielt und dosiert unter Kontrolle bringen. Je mehr man testet, desto schlagkr?ftiger ist die Methode, und desto weniger muss auf andere Massnahmen zurückgegriffen werden, wie zum Beispiel die Schliessung von Schulen, Restaurants oder Gesch?ften. Angesichts der neuen ansteckenderen Virusvarianten ist eine solche wirksame und flexible Teststrategie wichtiger denn je.
Bei der Pandemiebek?mpfung kommt es letztlich darauf an, dass sich m?glichst viele infekti?se Personen in Isolation begeben. Vergleicht man zwei Bek?mpfungsstrategien, ist jene überlegen, die mehr infekti?se Personen zu erkennen vermag. Simulationsrechnungen, an denen wir beteiligt waren, zeigen, dass regelm?ssige Virustests – sofern viele Personen freiwillig mitmachen – dazu besser geeignet sind als die bisherige Schweizer Teststrategie, die auf Personen mit Covid-19-Krankheitssymptomen zielt2.
Der Hauptgrund dafür: Eine auf Symptomen basierende Teststrategie ist auf einem Auge blind. Zwei wichtige Personengruppen lassen sich damit nur schlecht aufspüren. Zum einen sind das infizierte Personen w?hrend der ersten Tage der Infektion, wenn sie noch keine Symptome zeigen. Zum anderen sind es Infizierte, die gar nie Symptome entwickeln (asymptomatisch bleiben). Letztere sind im Schnitt mehr als zehn Tage infekti?s, ohne davon zu wissen, und sie verbreiten in dieser Zeit das Virus weiter.
Zwei Stufen
Die von uns vorgeschlagene Teststrategie ist zweistufig und berücksichtigt die spezifischen Vor- und Nachteile von Antigen-Schnelltests und PCR-Tests. In einer ersten Stufe sehen wir vor, dass sich die Bev?lkerung regelm?ssig einem Schnelltest unterzieht. Diese Tests sind verh?ltnism?ssig günstig, und das Testresultat liegt sofort vor. Hierbei positiv getestete Personen müssen sich sofort in Isolation begeben. Weil Schnelltests in seltenen F?llen ein falsches Testresultat anzeigen, schlagen wir vor, jedes positive Testergebnis in einem zweiten Schritt mit einem genaueren PCR-Test zu überprüfen. Personen, deren positives Schnelltest-Ergebnis in der PCR widerlegt wurde, k?nnen die Isolation sofort verlassen, best?tigte positive Personen müssen in der Isolation verbleiben.
In der ?ffentlichen Diskussion wird oft darauf hingewiesen, dass die Antigen-Schnelltests weniger genau sind und nicht alle infekti?sen Personen zu erkennen verm?gen. Das stimmt zwar, ist aber nur von geringer Bedeutung, wenn es darum geht, unter sehr vielen Menschen eine bestimmte Zahl von infekti?sen Personen zu erkennen. Man muss damit einfach mehr Leute testen. Auch schlechte Fischer angeln Fische. Um gleichviele Fische zu angeln wie gute Fischer, braucht es von den schlechten Fischern einfach mehr.
Es lohnt sich
Kritiker m?gen einwenden, dass das massenweise Testen sehr teuer ist. Es lohnt sich dennoch. Mit jeder einzelnen verhinderten Infektion lassen sich volkswirtschaftliche Kosten (Externalit?ten) vermeiden. Diese genau zu beziffern, ist schwierig. Amerikanische Wirtschaftswissenschaftler sch?tzten sie auf rund 250'000 Franken pro Infektion1. Selbst wenn verh?ltnism?ssig wenige Freiwillige bei einem Massentest mitmachten, dürfte damit der volkswirtschaftliche Nutzen die Kosten übersteigen.
Dennoch gilt: Eine testbasierte Bek?mpfungsstrategie ist erfolgreicher, je mehr Personen teilnehmen. Wir haben in einem kleinen Team von Wissenschaftlern der ETH Zürich, der Empa und weiteren Mitstreitern einen Simulationsalgorithmus entwickelt2, der auch als interaktive Onlineanwendung verfügbar ist.3 Entscheidungstr?ger k?nnen damit für eine beliebige Anzahl von Teilnehmern die Wirkung auf die Virusverbreitung absch?tzen. So k?nnen sie die Kosten fürs Testen gegen die Kosten alternativer Massnahmen abw?gen, wie zum Beispiel Unterstützungszahlungen für die Wirtschaft.
Unsere Simulationen zeigen: L?sst sich ein Viertel der Bev?lkerung in einem Gebiet jede Woche einmal testen, kann damit die Reproduktionszahl (der R-Wert) um etwa 40 Prozent verringert werden. L?sst sich gar die H?lfte der Bev?lkerung einmal pro Woche testen, liesse sich der R-Wert halbieren. Testet man nicht die ganze Bev?lkerung, sondern spezifisch Bev?lkerungsgruppen, die besonders anf?llig sind auf eine Ansteckung, müsste man weniger Personen testen, um dieselbe Wirkung zu erzielen4. Solche Bev?lkerungsgruppen sind beispielsweise Personen, die t?glich beim Pendeln, am Arbeitsplatz, in Gemeinschaftseinrichtungen oder in der Schule viele Kontakte haben.
?Mit einer ausreichend hohen Zahl von Teilnehmenden liessen sich die neuen Virusvarianten vielleicht sogar ohne Lockdown in Schach halten.?Patrick Jenny und Wolf-Dietrich Hardt
Damit k?nnen Tests – wenn man auch die symptomlosen Menschen testet – sogar so wirksam sein, dass man andere Bek?mpfungsmassnahmen, wie zum Beispiel die Schliessung von L?den oder Restaurants, früher lockern k?nnte. Und sie w?ren ein wichtiger und flexibel einsetzbarer Hebel, den wir in der Hand haben, um gegen neue ansteckendere Virusvarianten anzutreten. Mit einer ausreichend hohen Zahl von Teilnehmenden liessen sich die neuen Virusvarianten vielleicht sogar ohne Lockdown in Schach halten.
Dranbleiben ist wichtig
Um den langfristigen Erfolg der Strategie zu garantieren, müsste auch nach einem anf?nglichen Erfolg und bei sinkenden Fallzahlen gleich intensiv weitergetestet werden bis genügend Personen geimpft sind.
Die Teilnahme an Massentests muss freiwillig bleiben. Die bisherigen Erfahrungen in Graubünden zeigen jedoch, dass ausreichend viele Menschen bereit sind, sich testen zu lassen. Wichtig ist, dass die Bev?lkerung einen Anreiz hat mitzumachen. Anfahrtszeit und Wartezeit mu?ssen klein, und der Test darf nicht zu unangenehm sein. Deshalb werden in Graubu?nden unter anderem auch Speicheltests statt solche mit Nasenabstrich durchgefu?hrt, was auch den logistischen und personellen Aufwand reduziert.
In Graubünden werden wir nun auch sehen, ob eine auf das Testen von symptomlosen Personen fokussierte Strategie funktioniert. Wir werden aus den dortigen praktischen Erfahrungen lernen k?nnen, wie solche Tests am besten organisiert werden. Aus mathematisch-theoretischer Warte gibt es keinen Grund zur Annahme, dass die Strategie nicht aufgehen würde. Und wir sehen auch keinen Grund, der einer Ausweitung dieser Teststrategie auf die ganze Schweiz im Weg stehen k?nnte.
Dieser Text erschien auch als Gastkommentar externe Seite im Tages-Anzeiger.