Bei Katastrophen Smartphone-Netze besser nutzen
Gemeinsam kommen wir besser durch Krisen. Das zeigt beispielhaft eine von ETH-Professor Dirk Helbing geleitete Untersuchung: Teilen wir im Fall einer Katastrophe quasi unsere Handyakkuladung mit anderen Menschen, k?nnte dies die Kommunikation l?nger aufrechterhalten und Leben retten.
Digitale Tools bieten Chancen, damit Katastrophen weniger Schaden anrichten. Davon ist Dirk Helbing, Professor für Computational Social Sciences der ETH Zürich, überzeugt. ?Wir h?ren oft, dass digitale Plattformen aus dem Silicon Valley soziale Werte untergraben?, sagt er. ?Dabei geht vergessen, dass die Digitalisierung auch genutzt werden kann, um ebendiese Werte zu st?rken.? Um solche sozialen digitalen Technologien geht es bei der von Helbing geleiteten Forschungsinitiative ?Engineering Social Technologies for a Responsible Digital Future? der holl?ndischen Universit?t TU Delft.
Eine neue Untersuchung aus dieser Initiative erschien Ende M?rz in der Zeitschrift ?Scientific Reports?. Sie stehe beispielhaft dafür, dass wir besser dran seien, wenn wir in der Krise kooperativ sind, so Helbing. ?Und zwar nicht nur aus Mitgefühl, sondern weil das Teilen in Krisensituationen eine ?berlebensvoraussetzung für alle ist.?
Konkret geht es in der Studie darum, wie wir im Fall einer Katastrophe besser – und l?nger – miteinander kommunizieren k?nnen. Erfahrungen mit schweren Naturkatastrophen wie dem Hurrikan Katrina in den USA (2005) oder dem Erdbeben in Japan (2011) zeigen, dass die betroffenen Menschen in den ersten Stunden nach dem Unglück erst einmal auf sich allein gestellt sind. Wegen zerst?rter Infrastruktur sind sie in der Regel von jeglicher Kommunikation abgeschnitten. Dies erschwert, dass sie einander helfen k?nnen. Genau diese Zeit unmittelbar nach einer Katastrophe ist aber entscheidend, weil es dauert, bis Rettung kommt und die ?berlebenswahrscheinlichkeit der Betroffenen mit jeder Stunde sinkt. Die ersten 72 Stunden nach einem Unglück gelten denn auch als kritisch, weil in dieser Zeit die meisten Menschenleben gerettet werden k?nnen.
Netz bleibt deutlich l?nger stabil
Die von Dirk Helbing zusammen mit Frances Brazier und Martijn Warnier von der TU Delft betreute Studie leistet einen Beitrag zur Bew?ltigung solcher Notsituationen. Sie schl?gt eine App vor, welche ein Kommunikationsnetz direkt zwischen den Handys aufbaut und die verbliebenen Akkuladungen im Katastrophengebiet optimal nutzt. In ihrem Paper zeigen die Forscher auf, welche Funktionen eine solche Anwendung haben muss, damit das Netz stabil und die einzelnen Ger?te m?glichst lange miteinander in Verbindung bleiben.
Das funktioniert so: Einige Ger?te mit viel Restakku fungieren als Hubs. ?ber diese Handys werden jene Kommunikationsvorg?nge abgewickelt, die viel Energie verbrauchen, also den Akku entladen. In der Studie wurde dies mit dem Versenden von Textnachrichten simuliert. Die Ger?te mit geringem Akku hingegen werden mehrheitlich ?geschont? – mit dem Effekt, dass m?glichst wenige Ger?te aus dem Netz ausscheiden. Denn je mehr Handys im Netz verbleiben, desto stabiler ist es. Das von den Wissenschaftlern vorgeschlagene System optimiert sich dabei laufend selbst: Wenn ein Ger?t, das als Hub fungiert, an Akkuladung einbüsst, wird es automatisch durch ein anderes Handy, das noch über mehr Batterieleistung verfügt, als Hub ersetzt.
Diese Funktionen erlauben es den betroffenen Menschen, l?nger miteinander in Kontakt zu bleiben und einander zu helfen. Die Forscher rund um Helbing nennen dieses neue Notfall-Kommunikationssystem SOS (für ?Self-Organsation for Survival?). Anhand von Simulationen konnten sie zeigen, dass die neue Methode tats?chlich besser funktioniert. W?hrend bei herk?mmlichen sogenannten Mesh-Netzwerken nach 24 Stunden nur noch 18 Prozent aller Handys im Netz verblieben, waren es beim SOS-System noch 99 Prozent. Und nach der kritischen Zeit von 72 Stunden war mit dem neuen System immer noch die Mehrheit aller Handys (62 Prozent) aktiv.
Zentraler Vorteil dabei war, dass im SOS-System die Energie im Netz gleichm?ssiger, also ?fairer? genutzt wurde. ?Von dieser fairen Verteilung profitieren letztlich alle?, sagt die Doktorandin Indushree Banerjee, Hauptautorin der Studie. Und Helbing erg?nzt: ?Die Gemeinschaft ben?tigt Kommunikation, um sich zu organisieren. Wenn Akkus leerlaufen, dann tragen alle den Schaden, weil Lücken im Kommunikationsnetz entstehen.?
Dezentrale L?sungen für die Katastrophe
Die Studie leistet gem?ss Helbing einen Beitrag, die Hilfe zur Selbsthilfe der Zivilgesellschaft zu st?rken. ?In Krisen ist die Bereitschaft zur Hilfe zwar gross. Damit sie erfolgreich ist, muss die Hilfe aber koordiniert werden.? Kommt es heute zu einer Katastrophe, gehen h?ufig unz?hlige Anrufe bei einer zentralen Stelle ein – die durch die vielen Anfragen oft überlastet ist. Das ist der Grund, warum dezentrale L?sungen wie das SOS-System im Fall einer Katastrophe nützlich sind. Die Rede ist von ?partizipativer Resilienz?, also von mehr Krisenfestigkeit durch Beteiligung.
Die Entwicklung der SOS-Methode reiht sich in eine Reihe von Vorschl?gen ein, wie digitale Werkzeuge in Notsituationen helfen k?nnen. Ihren Ursprung haben sie in einem Hackathon zur Erdbebenbew?ltigung mit dem Forschungs- und Innovationsnetzwerk ?Swissnex?. Drei L?sungen fielen in San Francisco damals auf (vgl. externe Seite Video): Betroffene einer Katastrophe konnten über die App ?Amigo Cloud? eine Schadenskarte erstellen. ?ber die Anwendung ?Helping Hands? konnten sie den Nachbarn mitteilen, welche Hilfe sie ben?tigen. Und die Initiative ?Charge Beacon? schlug Sitzgruppen mit Solard?chern vor, um Smartphones in Notsituationen auch ohne Stromnetz aufladen zu k?nnen. Diese zus?tzliche Energie würde erm?glichen, in der kritischen Zeit nach der Katastrophe neben Textnachrichten auch zus?tzliche Funktionen zu betreiben.
Die Erfahrungen mit Covid-19 zeigen die Dringlichkeit, mit der das Thema partizipative Resilienz von den Beh?rden angegangen werden sollte, meint Helbing. ?Es ist zu sp?t, solche Apps zu entwickeln, wenn die Krise bereits da ist.? Konkret ginge es darum, das von den Forschern konzeptionell erarbeitete SOS-System in einer Software umzusetzen und in Notfall-Apps zu integrieren. Denkbar w?re für Helbing beispielsweise, den Funktionsumfang der App ?AlertSuisse? des Bundesamts für Bev?lkerungsschutz zu erweitern.
Literaturhinweis
Banerjee I, Warnier M, Brazier FMT, Helbing D. Introducing participatory fairness in emergency communication can support self-organization for survival. Scientific Reports 11, 7209 (2021). doi: externe Seite 10.1038/s41598-021-86635-y
Weitere Informationen
- externe Seite call_made Video: Self-Organisation for Survival (SOS), von Indushree Banerjee, Hauptautorin der Studie. (TU Delft)
- externe Seite call_made Video: What if the Big One Hits? Hacking Earthquake Resilience. (Swissnex San Francisco)
- chevron_right Webseite Computational Social Science
- externe Seite call_made Engineering Social Technologies for a Responsible Digital Future