Nichts für selbstverständlich nehmen
Günther Dissertori wird im Februar 2022 Rektor der ETH Zürich, heute wurde er vom ETH-Rat offiziell gew?hlt. Im Portr?t erz?hlt er, vor welchen Aufgaben er Respekt hat und was gute Physik mit guter Lehre verbindet.
Günther Dissertori, ETH-Professor für Teilchenphysik und designierter Rektor, will die Dinge im Kern verstehen. Er wollte dies schon immer. Bei der Studienwahl interessierte ihn die Gentechnologie, geworden ist er Physiker. Obwohl er sich das zuerst gar nicht zugetraut h?tte: ?Ich dachte, Physik würden nur die Besten der Besten studieren.? Und dazu z?hlte er sich nicht.
Dissertori wuchs in Algund auf, ein Dorf im Südtirol in der N?he von Meran, die Mutter Hausfrau, der Vater Handelsreisender. Er verbrachte im Sommer viel Zeit auf dem Bauernhof seiner Grosseltern und war der Erste in seinem Umfeld, der studierte und eine akademische Laufbahn einschlug. Das habe ihn wohl gepr?gt, sagt er: ?Ich versuche, nichts für selbstverst?ndlich zu nehmen.? Man k?nne tief fallen, wenn man glaube, zu hoch fliegen zu müssen. ?Besser, man erarbeitet sich Schritt für Schritt den Erfolg und freut sich, wenn man ein Ziel erreicht hat.? Vor hohen Zielen scheute er sich aber nie: Er tr?umte als Kind davon, Astronaut zu werden, las viel über die Raumfahrt und durchlief als Student die ersten Selektionsrunden. Es reichte nicht, er blieb am Boden und war stattdessen bald in der Physik erfolgreich.
Das Higgs-Teilchen
1994 führte ihn ein Stipendium von der Universit?t Innsbruck als Doktorand ans Cern in Genf. 1997 promovierte er dort. 2001, 31-j?hrig, erhielt er eine Assistenzprofessur an der ETH Zürich. ?Ich fühlte mich eigentlich fast zu jung dafür und war froh, dass mich mein Umfeld dazu ermunterte und ich dann auch grosse Unterstützung erhielt.? Fortan pendelte er zwischen seinen Arbeitspl?tzen am CERN in Genf und der ETH in Zürich, wo er 2007 zum ordentlichen Professor ernannt wurde.
Am Cern half er mit, das CMS-Experiment am grossen Teilchenbeschleuniger aufzubauen. Jenes Experiment, mit dem es gelang, das Higgs-Teilchen nachzuweisen und Peter Higgs’, Robert Brouts (?) und Fran?ois Englerts Theorie zu belegen. Dafür erhielten Higgs und Englert 2013 den Nobelpreis für Physik. Dissertori hatte zusammen mit den ETH-Professorinnen und Professoren Christophorus Grab, Felicitas Pauss und Rainer Wallny mitgeholfen, den Weg dafür zu ebnen.
Als Experimentalphysiker habe er immer auch die N?he zu den Theoretikerinnen und Theoretikern gesucht, sagt er. Dafür ben?tigte er ein tiefes Verst?ndnis beider Disziplinen. Oder in Dissertoris Worten: ?Das Wissen ist zum Teil so spezialisiert, dass schon die gemeinsame Sprache und Verst?ndigung zur Herausforderung wird.? Und auch die Arbeit in grossen Kollaborationen, wie sie in der Teilchenphysik normal ist, habe ihm immer Freude bereitet.
Würde ich das verstehen?
Dissertori hat zudem viel Herzblut für das Unterrichten. An der Physik und dem Unterricht fasziniert ihn dasselbe: komplexe Sachverhalte m?glichst einfach zu erkl?ren. Erkl?ren und Verstehen geh?rten zusammen, sagt er: ?Wie oft glaubt man doch, man h?tte etwas verstanden. Aber erst, wenn ich etwas zu erkl?ren versuche, realisiere ich, ob ich die Materie durchdrungen habe.?
Kommt hinzu, dass man beim Erkl?ren auf das Gegenüber eingehen muss: ?Ich frage mich immer, ob ich als Gegenüber meine Erkl?rung wirklich verstehen würde.? Wenn nicht, ist er mit der Erkl?rung nicht zufrieden.
Für seine Art zu unterrichten wurde er von den Studierenden gleich viermal mit der ?goldenen Eule? für den besten Unterricht am Departement ausgezeichnet und auch den ?Credit Suisse Award for best teaching at ETH? erhielt er. Sein Unterricht ist beliebt. Dissertori l?sst das Lob aber nicht unkommentiert: Beliebtheit solle man nicht automatisch mit Qualit?t gleichsetzen.
Was gute Lehre ausmacht, sei eine der Fragen, mit denen er sich als Rektor genauer besch?ftigen wolle. Für viele sei diese Frage vielleicht implizit beantwortet, das reiche ihm aber nicht.
Respekt vor dem Wachstum
Darauf angesprochen, welche Projekte er in Angriff nehmen m?chte, nennt er denn auch die ?berarbeitung der Evaluation der Lehre. Die Beurteilung mittels Umfragen bei den Studierenden erachtet er als zu einseitig, er wünscht sich dabei weitere Blickwinkel, zum Beispiel ein Feedback durch Kolleginnen und Kollegen. Obwohl sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gewohnt seien, ihre Forschung durch Kolleginnen und Kollegen kommentieren zu lassen, gebe es dafür in der Lehre eine grosse Hemmschwelle. Diese m?chte er abbauen.
Eine der gr?ssten Herausforderungen, die auf ihn warten, sind die konstant steigenden Studierendenzahlen, zumal die Anzahl der Dozierenden in den n?chsten Jahren kaum Schritt halten wird. Er habe Respekt vor der Aufgabe, weil die L?sung nicht alleine in den H?nden der ETH liege. Damit die ETH die Qualit?t der Lehre hochhalten k?nne, seien die Diskussionen über m?gliche Massnahmen unausweichlich, wie m?glicherweise restriktivere Zulassungskriterien für das Masterstudium.
Respekt habe er auch vor den Aufgaben, wie sie Rektorin Sarah Springman, ihr Team und die Schulleitung in der Corona-Krise meistern mussten. Aufgaben, die überraschend auftreten und bei denen man ohne sichere Datenbasis schnelle Entscheide treffen müsse.
Den Pr?senzunterricht neu denken
Die Lehre gut aus der Corona-Krise zu führen, wird im n?chsten Jahr seine erste Aufgabe als Rektor werden. Sarah Springman führt dazu in diesem Jahr bereits diverse Workshops und Strategietreffen mit dem Lehrk?rper und den Studierenden durch und stellt so die ersten Weichen. Dissertori nimmt als Studiendirektor des Departements Physik und künftiger Rektor daran teil.
Er sagt: ?Wir haben in der letzten Zeit gelernt, wie wichtig und stimulierend die Pr?senzlehre ist. Als Dozierende müssen wir uns die Frage stellen, was genau den Unterricht vor Ort ausmacht und wie wir den Pr?senzunterricht am sinnvollsten nutzen.? Darauf gebe es je nach Fach und Veranstaltung natürlich viele verschiedene Antworten. Diskutieren müsse man die Frage aber.
Auf die Diskussionen freue er sich. Auf neue Begegnungen, Ideen und andere Sichtweisen. Natürlich – er freue sich auch, ?die Geschicke der ETH mitbestimmen zu dürfen?, und auf die Verantwortung. Am meisten aber auf die Menschen – ?und das meine ich ganz ehrlich?.