Mental stärker werden – dank Training mit einer Software
In welchem mentalen Zustand erreichen wir unsere beste Leistung? ETH Pioneer Fellow Marc B?chinger und Sarah Meissner arbeiten an einer L?sung. Ihre Technologie MyFlow hilft, mental st?rker zu werden. Demn?chst gründen die beiden ein Startup.
Wenn Sarah Meissner in ihrer Freizeit Tischtennis spielt, dann versucht sie, zwischen den Punkten immer wieder kurz innezuhalten und sich für einen Moment ganz bewusst auf ein bestimmtes K?rperteil, wie etwa ihre Fingerspitzen, zu konzentrieren. Zudem achtet sie auf ihre Atmung. Es sind mentale Strategien, die ihr helfen sollen, konzentriert zu bleiben. ?Es gibt immer wieder Momente, wo ich merke: Jetzt bin ich nicht mehr fokussiert?, sagt sie. Meist dann l?sst die Leistung nach, der Punkt geht verloren.
Die mentale St?rke beeinflusst unsere Leistungsf?higkeit – nicht nur im Sport, sondern auch bei einer Prüfung oder im Job. Nur: Wie erreichen wir jenen mentalen Zustand, in dem wir unsere beste Leistung erbringen? Meissner hat zusammen mit ETH Pioneer Fellow Marc B?chinger eine Methode entwickelt, mit der dieser Zustand trainiert werden kann: MyFlow. Es handelt sich dabei um eine Software, welche den Erregungszustand unseres Gehirns misst und auf einer Skala grafisch darstellen kann. Wissen wir um unseren aktuellen Erregungszustand Bescheid, so k?nnen wir lernen, ihn zu regulieren – hin zum gewünschten Optimum.
MyFlow funktioniert verblüffend einfach: ein Eye-Tracker liest mithilfe einer Infrarot-Kamera sozusagen von unseren Augen ab, ob wir in der Verfassung für Spitzenleistungen sind. Für den Erregungszustand ist im Gehirn unter anderem der Botenstoff Noradrenalin verantwortlich. Dieser wird in einem Teil des Hirnstamms, dem Locus Coeruleus, produziert. Dessen Aktivit?t wiederum l?sst sich an unseren Pupillen ablesen. ?Sind wir angespannt, gestresst oder gar panisch, vergr?ssert sich unsere Pupille?, erkl?rt B?chinger. ?Werden wir hingegen schl?frig, verkleinert sie sich.?
Das Potenzial m?glicher Anwendungen ist gross: es reicht von Trainingsger?ten für Sportler über medizinische Therapien (z.B. Stress) bis zu einer Handy-App mit Entspannungs-?bungen für den Alltag. Schon bald m?chten B?chinger und Meissner eine Firma gründen, sp?testens in einem halben Jahr soll es so weit sein.
Mentaltraining für Sportler
Ein erstes Pilotprodukt kann das Duo bereits vorweisen. B?chinger hat eine Software kreiert, die auf eine VR-Brille geladen wird. Setzt man sie auf, deutet ein Zeiger auf einem Tacho auf den eigenen Erregungszustand. Mit gedanklichen Strategien kann nun im virtuellen Raum versucht werden, den mentalen Zustand zu steuern – der integrierte Eye-Tracker misst die Pupillendynamik, worauf der Zeiger auf- und abschwenkt.
B?chinger und Meissner planen den Markteinstieg im Bereich Mentaltraining für Sportler. Mit Hilfe von Feedbacks von Sportlerinnen und Sportlern wollen sie die Software so verfeinern, dass sie demn?chst an erste Kunden verkauft werden kann. Mit einem Golfer ist ein Projekt bereits aufgegleist, eine sportartübergreifende Pilotstudie am nationalen Sportzentrum in Magglingen ist beantragt. ?Wir suchen noch weitere interessierte Nachwuchs- und Spitzensportler, die unsere neue Software testen?, so Meissner.
Fernziel Smartphone-App
Langfristiges Ziel ist, die Methode für Smartphones kompatibel zu machen. ?Dann k?nnte man am Handy in Echtzeit Rückmeldung zum eigenen mentalen Zustand erhalten?, sagt Meissner, ?um dann diesen Zustand gezielt zu beeinflussen.? Damit eine solche Handy-App einst Realit?t wird, muss sich MyFlow allerdings noch in der Praxis beweisen.
Eine Herausforderung sind etwa die Lichtverh?ltnisse. ?Licht vergr?ssert oder verkleinert unsere Pupillen weit st?rker als unser Erregungszustand?, erkl?rt B?chinger. Um im Alltag zu funktionieren, muss die Software die entscheidenden Ver?nderungen im Waldschatten aber genauso erkennen wie unter der Strandsonne. ?Das ist eine technologische Herausforderung?, sagt B?chinger. ?Aber sie ist machbar.? Weil die Nutzung auf dem Smartphone ein wichtiges Fernziel ist, testet B?chinger sie bereits heute: mit Hilfe eines Ger?ts, das die Benutzung des Smartphones als VR-Brille erm?glicht.
B?chinger besch?ftigt sich seit Jahren damit, wie die Prozesse in unserem Gehirn beeinflusst werden k?nnen. Seine Doktorarbeit schrieb er zu nicht-invasiven Methoden der Hirnstimulation. Auf die Idee für MyFlow kam er durch Nicole Wenderoth, Professorin für neuronale Bewegungskontrolle an der ETH Zürich. ?Eines Tages kam sie aus einer Konferenz zurück und sagte: ?Vielleicht k?nnen wir die Aktivit?t des Locus coeruleus willentlich beeinflussen.‘? Als Wissenschaftler habe er die Idee zun?chst für Unfug gehalten. ?Es war schwer zu glauben, dass es so einfach ist. Aber wir experimentierten, und schliesslich haben wir gesehen, dass es funktionieren k?nnte.?
Schlafprobleme wegtrainiert
B?chinger kümmert sich heute um die technologische Weiterentwicklung der Software. Mit Unterstützung des ETH Pioneer Fellowship arbeitet er zudem an der Business-Entwicklung. Für die wissenschaftliche Validierung der Methode zust?ndig ist Sarah Meissner. Die in Konstanz und Düsseldorf ausgebildete Psychologin und Neurowissenschaftlerin hatte sich zuvor in ihrer Forschung unter anderem mit der Parkinsonerkrankung besch?ftigt, bei der Nervenkrankheit scheint der Locus Coeruleus ebenfalls eine wichtige Rolle zu spielen.
Das Leben als Unternehmer, sagt B?chinger zum Schluss, unterscheide sich stark von jenem als Forscher. Das Startup-Leben sei sehr dynamisch, und dazu geh?re auch die Unsicherheit, ob alles so klappt, wie erhofft. Bei B?chinger ging das so weit, dass die Gedanken oft gar nie Feierabend machten: er hatte Schlafprobleme. Doch die trainierte er weg – mit Hilfe von MyFlow. ?Wenn ich wieder mal nicht einschlafen konnte, versuchte ich, an gar nichts zu denken.? Tagsüber verfeinerte er diese Strategie namens Blank Mind mit Hilfe seines Tools. Das gelang ihm immer besser. ?Mittlerweile schlafe ich wieder ganz gut?, sagt er.
MyFlow am ETH Industry Day
Am ETH Industry Day am 8. September k?nnen Interessierte aus der Industrie die MyFlow-Technologie ausprobieren. MyFlow ist einer von mehr als 80 St?nden, an welchen Forschende, Unternehmer und Studierende ihre Arbeiten pr?sentieren.