Labor für die Gesellschaft
Die ETH Zürich war immer schon ein Spiegelbild gesellschaftlicher Str?mungen. In den letzten zwanzig Jahren wurde sie internationaler, autonomer, digitaler und auch weiblicher.
Neues zu erforschen und Etabliertes zu vermitteln, sind seit über zwei Jahrhunderten die Kernaufgaben der europ?ischen Universit?t. Mit Blick auf diese beiden S?ulen scheinen Hochschulen erstaunlich best?ndige Institutionen zu sein. Doch wer genauer hinsieht, erkennt, dass sich sowohl die Art und Weise, wie sie diese Aufgaben erfüllen, als auch ihr Selbstbild immer wieder stark ver?nderten.
Auch die bewegte Geschichte der ETH Zürich zeigt, dass sich die Hochschule stets in Wechselwirkung mit sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in ihrem Umfeld wandelte. In den letzten zwanzig Jahren wurde sie dabei nicht nur internationaler, autonomer und digitaler, sondern auch weiblicher und innovationsfreudiger. Gleichzeitig fungierte die ETH durch die Erforschung neuer Technologien und deren Transfer in die Gesellschaft immer wieder als zentraler Impulsgeber für Ver?nderungen. Sie war gleichsam Abbild der und Laboratorium für die Gesellschaft.
Vernetzung und Mobilit?t steigen
War die Wissenschaft in ihrem Grundverst?ndnis immer schon universal und damit l?nderübergreifend, nahm der Grad ihrer internationalen Vernetzung in den letzten zwei Jahrzehnten erheblich zu. Die Gründe dafür sind so vielf?ltig wie komplex: Zum einen suchten im Zuge der Globalisierung immer mehr Menschen auch jenseits ihrer Landesgrenzen nach optimalen Forschungs- oder Studienbedingungen.
Zum anderen konnte die Nachfrage nach Forschenden vor allem in kleineren L?ndern schlicht nicht am nationalen Arbeitsmarkt gedeckt werden. Die Schweiz galt sp?testens seit den 1980er Jahren als Wissensgesellschaft. Der Faktor Wissen wurde damit neben dem Dienstleistungssektor auch in der Industrie zum entscheidenden Wachstums- und Innovationstreiber.
Besonders deutlich zeigte sich dies Anfang der 1990er Jahre in wichtigen neuen Technologiefeldern wie der Molekularbiologie, der Mikroelektronik oder der Informatik. Wollte die Schweiz hier langfristig nicht zurückzufallen und den Anschluss an die Weltspitze verlieren, war sie auf internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angewiesen.
Globaler Wettbewerb um Talente
Wie ETH-Professor David Gugerli in ?Die Zukunftsmaschine?, dem Standardwerk zur ETH-Geschichte, ausführt, lagen diese ?berlegungen sp?testens seit den 1990er Jahren auch der Rekrutierungspolitik der ETH zu Grunde. Die ETH stand damals schon in einem sich versch?rfenden globalen Wettbewerb um Talente, an dem sich seit der Jahrtausendwende auch asiatische Universit?ten immer selbstbewusster beteiligen. Wie erfolgreich die ETH dabei war, zeigt ein Blick in die Statistik: Kamen bis in die frühen 1980er Jahre noch weniger als 30 Prozent der ETH-Professoren aus dem Ausland, stieg dieser Anteil bis 2020 auf 67 Prozent.
Bei den Doktorierenden ist ein ?hnlicher Trend zu verzeichnen: W?hrend 1990 lediglich jeder dritte Doktorierende nicht aus der Schweiz kam, stammen 2020 drei Viertel der Doktorierenden aus dem Ausland. Diese starke Internationalisierung der Forschung blieb nicht ohne Folgen für die Beziehung der ETH zu ihrem Umfeld.
Gugerli zufolge verlagerte sich die Vernetzung der ETH-Forschenden zunehmend von der nationalen auf die internationale Ebene. ?hnlich wie bei grossen Schweizer Unternehmen kam es zu einer Erosion bestehender nationaler Netzwerke, die durch eine Professionalisierung der Aussenbeziehungen der ETH kompensiert wurden. Konservative Stimmen aus Politik und Gesellschaft sprachen gelegentlich gar von einer Entfremdung der ETH von ihren nationalen Wurzeln.
Weitaus weniger erfolgreich verlief die Rekrutierung von Frauen an der ETH Zürich. Es ?dauerte bis 1985, als mit der Architektin Flora Ruchat-Roncati die erste ordentliche Professorin ernannt wurde. Bis 2020 stieg der Frauenanteil in der Professorenschaft auf 18 Prozent, bei den Studierenden liegt er bei 33 Prozent. Bis zu einem ausgewogenen Geschlechterverh?ltnis in Forschung und Lehre ist es auch heute noch ein weiter Weg.
Die Internationalisierung des Studiums
Auch um die besten Studierenden entwickelte sich in den letzten zwanzig Jahren ein immer intensiverer globaler Wettbewerb. Für Antonio Loprieno, Pr?sident der European Federation of Academies of Sciences and Humanities, waren zwei Entwicklungen dabei besonders massgebend: Die 1999 angestossene und 2005 vollendete Bologna-Reform führte zun?chst zu einer Harmonisierung – in den Augen mancher Kritiker gar zu einer Verschulung – der Studieng?nge in Europa entlang des nord?amerikanischen Bachelor/Master-Systems. ?Ein einheitlicher Hochschulraum, in dem unterschiedliche Studienangebote durch das System der ECTS-Punkte pl?tzlich vergleichbar wurden, st?rkte die Mobilit?t der Studierenden?, so Loprieno.
Parallel dazu entstanden neue Rankings, die Hochschulen zu Beginn der 2000er Jahre zwar ?international vergleichbar machten, dabei aber wenig Rücksicht auf nationale Besonderheiten nahmen und dadurch bis heute unvollst?ndig sind. ?Diese beiden Entwicklungen?, erkl?rt der Historiker, ?führten zu einer Globalisierung des Studiums und einer internationalen ?ffnung der Universit?t.? Hochschulen wie die ETH Zürich, die in den neuen Rankings gut positioniert waren, wurden damit noch attraktiver. Dementsprechend stieg der Anteil ausl?ndischer Studierender an der ETH von 2000 bis 2020 von 20 auf 40 Prozent.
?Innovationsf?rderung wird immer mehr zum entscheidenden Position?ierungsmerkmal für Hochschulen.? Antonio Loprieno
Autonomie und Selbstbestimmung
Um im internationalen Wettbewerb um K?pfe, Gelder und Rankings m?glichst effizient und flexibel handeln zu k?nnen, wurden Hochschulen zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch finanziell und administrativ in die Autonomie entlassen. ?Dieses Versprechen der Autonomie wurde durch Konzepte des New Public Management gen?hrt?, erkl?rt der Historiker Gugerli. Von dieser Bündelung von Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung an einem Ort ?versprach man sich politische, ?konomische und wissenschaftliche Gewinne.
Dieser Logik entsprechend erhielt auch die ETH 2004 ihre Budgetautonomie. Sie konnte fortan selbst über die ihr zur Verfügung stehenden Mittel bestimmen. Es ist heute schwer vorstellbar, dass Hochschulen früher eher ?mtern glichen, die in ihre jeweiligen nationalen Verwaltungsstrukturen eingebettet waren. Auf einem zunehmend kompetitiven Bildungsmarkt, auf dem rasche Entscheidungen und flexible Finanzierungsm?glichkeiten ?essenziell waren, wurde dieses Modell aber als zunehmend ineffizient angesehen.
Drittmittel und Digitalisierung
Mit dem Zugewinn an Autonomie gingen, so Hochschulforscher Loprieno, auch eine st?rkere Orientierung an betriebswirtschaftlichen Gr?ssen sowie eine Diversifizierung der Finanzierung einher. Kompetitiv eingeworbene Drittmittel aus nationalen und internationalen T?pfen sowie Zuwendungen aus der Privatwirtschaft wurden immer wichtiger. Was für die einen mehr Flexibilit?t und unternehmerischen Spielraum bedeutete, roch für die anderen nach ?konomisierung und st?rkerer Abh?ngigkeit von privatwirtschaftlichen Interessen. Mit der ETH Foundation gründete die ETH 2004 eine eigene Stiftung, um verst?rkt auf private G?nnerinnen und F?rderer zuzugehen.
Etwa zur gleichen Zeit, als die ETH Zürich autonom wurde, kam es auch zu einer Verlagerung zahlreicher operativer Prozesse ins Netz. Von der Registrierung für Kurse bis zur Anstellung neuer Mitarbeitender wurde die Hochschule sukzessive digitalisiert. Diese Entwicklung kulminierte im vergangenen Jahr in einer Corona-bedingten Verlagerung der Lehre in den virtuellen Raum. Darüber hinaus k?nnen wir aktuell gerade beobachten, wie die Kombination aus grossen Datenmengen, leistungsf?higen Rechnern und immer besseren Algorithmen die Arbeit vieler Forschenden nachhaltig ver?ndert.
Europ?isierung der Forschung
Obgleich die Gemeinschaft der Forschenden immer schon international dachte, kam es in den letzten zehn Jahren zu einer regelrechten Europ?isierung der Forschungslandschaft. Im Zentrum dieser Entwicklung stand 2007 die Gründung des Europ?ischen Forschungsrates, kurz ?ERC?. ?Der ERC erzeugte zum ersten Mal einen genuinen Wettbewerb der europ?ischen Universit?ten. Ein ERC-Grant wurde bald zum Goldstandard für international exzellente Grundlagenforschung und zum wichtigen Leistungsausweis für Forschende?, erkl?rt Helga Nowotny, emeritierte ETH-Professorin und von 2010 bis 2013 Pr?sidentin des ERC.
Die gut dotierten, aber hart umk?mpften F?rdergelder des ERC gehen gr?sstenteils an jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und an Projekte, im Rahmen derer zwei bis vier Forschende gemeinsam an einem besonders schwierigen Problem arbeiten. Inzwischen gilt der ERC als grosser Erfolg der europ?ischen Forschungsf?rderung. Die ETH konnte seit 2007 232 Grants in der H?he von 511,6 Millionen Franken einwerben und z?hlt damit zu einer der erfolgreichsten Hochschulen in Europa. Umso bedauerlicher ist es, dass die Schweiz als bisher assoziiertes Land aus Horizon Europe ausgeschieden ist und dadurch die besten Forschenden von Schweizer Institutionen nicht voll an ERC-Projekten teilnehmen k?nnen.
Neuer Fokus auf Innovation
Neben Forschung und Lehre z?hlte der Wissenstransfer immer schon zu den Kernaufgaben von Universit?ten. Antonio Loprieno zufolge wurde er in den letzten zehn?Jahren zunehmend im Sinne einer Innovationsf?rderung gedeutet: ?Die F?higkeit, Innovationen über Firmengründungen direkt oder über entsprechende Schwerpunkte in der Lehre indirekt zu f?rdern, wird immer mehr zu einem entscheidenden Positionierungsmerkmal für Hochschulen?, erkl?rt er. Es ist daher nicht weiter überraschend, dass Hochschulen schon seit einiger Zeit auch die Gründung von Unternehmen durch ihre Absolventen, sogenannte Spin-offs, als wichtigen Leistungsausweis kommunizieren.
Der Bildungs-, und Forschungsauftrag der Universit?ten wurde damit um einen Innovationsauftrag erweitert. Um Hochschulen herum sind ganze Innovations?kosysteme entstanden, in denen ein reger Wissenstransfer zwischen Universit?ten und Unternehmen stattfindet. Besonders deutlich wird dies in Zürich, das aufgrund seiner Hochschulen, seiner zentralen Lage und seiner Lebensqualit?t zu einem Magneten für Tech-Konzerne wie Google, Microsoft, IBM, Facebook, Hitachi, Amazon und seit Kurzem auch Zalando geworden ist.
Gleichzeitig steigen angesichts globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel auch die ?gesellschaftlichen Erwartungen an die Wissenschaft. Ob die auf Innovation und globalen Wettbewerb getrimmten Universit?ten diesen Erwartungen gerecht werden k?nnen, bleibt abzuwarten. Sicher ist hingegen, dass die Hochschule auch in den n?chsten 20 Jahren ein Spiegelbild der Gesellschaft bleiben wird.
Zu den Personen
David Gugerli ist Professor für Technik?geschichte an der ETH Zürich.
externe Seite Antonio Loprieno ist Pr?sident der European Federation of Academies of Sciences and Humanities und Professor für Geschichte an der Universit?t Basel.
externe Seite Helga Nowotny ist emeritierte ETH-Professorin für Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsforschung. Von 2010 bis 2013 war sie Pr?sidentin des ERC.
Dieser Text ist in der Ausgabe 21/04 des ETH-???Magazins Globe erschienen.