«Ich nehme eine Aufbruchstimmung wahr»
Anl?sslich des heutigen Weltfrauentages erkl?rt Julia Dannath, Vizepr?sidentin für Personalentwicklung und Leadership, warum es bis zu einem ausgeglichenen Geschlechterverh?ltnis an der ETH Zürich noch ein weiter Weg ist, und welche Massnahmen geplant sind, um dieses Ziel zu erreichen.
Frau Dannath, das Motto des diesj?hrigen Weltfrauentages ist #BreakTheBias, also überwinde Vorurteile. Welche Vorurteile begegnen Frauen heute immer noch?
Julia Dannath: Der Erwartung, dass prim?r Frauen für Familie und Care-Arbeit verantwortlich seien, begegne ich auch heute noch. Ich habe in meiner Karriere immer wieder geh?rt, dass ich es für eine Frau weit gebracht habe. Solche Aussagen haben mich sehr getroffen und einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Zudem sind Frauen auch weiterhin mit dem Vorurteil konfrontiert, dass naturwissenschaftliche und technische F?cher eher etwas für M?nner w?ren. Aber es ist auch wichtig, das Thema Vorurteile nicht nur mit Blick auf das Geschlecht zu hinterfragen. Diskriminierung oder Benachteiligung findet oft auch aufgrund von weiteren Merkmalen wie Herkunft, Hautfarbe, Alter oder sexueller Orientierung statt.
Wie k?nnen wir diese Vorurteile überwinden?
Wir müssen uns im Umgang mit Diversit?t bewusst machen, wie schnell Kategorisierungen und Zuschreibungen zu impliziten Vorurteilen werden. Eine besonders grosse Tragweite haben Vorurteile bei Berufungen für Professuren. Daher wollen wir Mitglieder von Berufungskommissionen in Zukunft mittels Workshops dafür sensibilisieren. Da ein offener und vorurteilsfreier Umgang miteinander auch die Grundlage für unserer Gemeinschaft hier an der ETH Zürich ist, haben wir im Oktober letzten Jahres die Respekt-Kampagne lanciert.
Welche Ziele hatte die Kampagne?
Wir wollten in Erinnerung rufen, dass Verhaltensweisen wie Mobbing, Bel?stigung, Diskriminierung sowie Bedrohung und Gewalt an unserer Hochschule keinen Platz haben. Insbesondere ging es uns darum, die ETH-Angeh?rigen zu ermuntern, aktiv einzuschreiten, wann immer jemand mit Vorurteilen und abf?lligen Kommentaren konfrontiert wird, oder wenn sie unangemessenes Verhalten beobachten. Schliesslich haben wir erneut auf die verschiedenen Anlauf- und Beratungsstellen an der ETH Zürich hingewiesen.
Kommen wir zurück auf das Geschlechterverh?ltnis: Nur 18 Prozent der Professorenschaft an der ETH Zürich ist weiblich, bei den Studierenden sind es 32 Prozent. Liegt das an den erw?hnten Vorurteilen, oder gibt es andere Gründe dafür?
Nach dem Grund für den Ausstieg aus der Wissenschaft gefragt, führen Doktorandinnen und Postdoktorandinnen vier Punkte an: Die Unvertr?glichkeit von akademischer Karriere und Familie, die erforderliche Mobilit?t und die mit einer akademischen Laufbahn einhergehende Unsicherheit. Dazu kommt der intensive Wettbewerb um Professuren, dem sich viele Frauen nicht aussetzen wollen, da er mit ihren Werten nicht vereinbar ist. Bei diesen Punkten müssen wir ansetzen. Doch wir sollten nicht vergessen, dass die ETH Zürich nicht losgel?st von der Gesellschaft existiert. Ein ausgeglicheneres Geschlechterverh?ltnis an der ETH erfordert auch ein Umdenken in der Gesellschaft.
?Die Vereinbarkeit von Beruf und Care-Arbeit muss gest?rkt werden.?Julia Dannath
Was muss sich in der Gesellschaft ?ndern?
Die Vereinbarkeit von Beruf und Care-Arbeit muss gest?rkt werden. In der Schweiz sind Betreuungsangebote für Kinder und betreuungsbedürftige Angeh?rige immer noch teuer, teilweise schwer zu organisieren und gesellschaftlich schlechter verankert als in anderen L?ndern. Wir bieten ETH-Mitarbeitenden und Studierenden daher ein kostenloses Beratungsangebot und wollen ein ETH-weites Netzwerk aufbauen, um Mitarbeitende und Studierende mit Care-Verpflichtungen zu unterstützen. Zudem brauchen wir mehr weibliche Vorbilder und Netzwerke, in denen sich Frauen gegenseitig unterstützen.
Welche Netzwerke und F?rderprogramme für junge Wissenschaftlerinnen und Professorinnen gibt es an der ETH Zürich?
Ich denke hier zum Beispiel an das externe Seite ETH Women Professors Forum, externe Seite H.I.T. - High Potential University Leaders Identity & Skills Training oder externe Seite CONNECT - Connecting Women's Careers in Academia and Industry. Besonders hervorheben m?chte ich das Programm externe Seite Fix the Leaky Pipeline, das jungen Wissenschaftlerinnen die M?glichkeit bietet, ihre berufliche Situation zu reflektieren, ihre Karriere zu planen, sich weiterzubilden und ihr Netzwerk zu erweitern. Das Programm gibt es bereits seit 15 Jahren.
Wie kann man dem Ph?nomen der "Leaky Pipeline" entgegenwirken?
Wie ich bereits erw?hnt habe, sind die Gründe für einen vorzeitigen Ausstieg von Frauen aus akademischen Laufbahnen vielseitig und k?nnen nicht mit einer einzigen Massnahme behoben werden. Insofern kann diese Frage nicht mit einem Allheilmittel beantwortet werden. Es braucht ineinander verzahnte Angebote, Massnahmen, die die verschiedenen strukturellen Ungleichheiten angehen und es braucht vor allem eine inklusive und diversit?tsorientierte Hochschulkultur.
Wo haben wir an der ETH Zürich in den letzten Jahren die gr?ssten Fortschritte gemacht?
In den vergangenen zwei Jahren wurden über 40 Prozent der neuen Professuren an der ETH mit Frauen besetzt. Und der Frauenanteil wird weiter steigen, denn rund 90 Prozent der scheidenden Professoren sind m?nnlich. Neben diesen positiven Signalen nehme ich ganz grunds?tzlich eine Aufbruchsstimmung an der ETH Zürich wahr. Die Themen Gleichberechtigung, Diversit?t und Inklusion erhalten auf allen Ebenen viel Beachtung und werden zunehmend in strategische ?berlegungen einbezogen. So hat die Schulleitung unser Vizepr?sidium im September 2021 mit der Ausarbeitung einer Diversity-Strategie beauftragt. Bildungs- und Chancengerechtigkeit sind ein wichtiger Wert für die ETH. Angebote zur Karrieref?rderung von Frauen, die F?rderung einer gender- und diversit?tssensiblen Lehre, der Gebrauch von inklusiver Sprache, die F?rderung von Vereinbarkeit – all dies zeigt, dass die ETH das Thema Chancengleichheit in allen Dimensionen hoch gewichtet. Hier waren vor allem der Mut und das Engagement der Professorinnen der ersten und zweiten Generation entscheidend.