Tanja Stadler erkl?rt ihr Forschungsgebiet mit Hilfe eines Baums. Bei der Fortpflanzung ver?ndern sich die genetischen Informationen – sie ver?steln sich wie die Zweige eines Baums. ?Ich beantworte biologische Fragen, indem ich aus genetischen Sequenzen den Baum rekonstruiere und dann die biologischen Prozesse daraus berechne.? Gekonnt erkl?rt Tanja Stadler, wie sich diese Herangehensweise praktisch auf alle Bereiche der Biologie übertragen l?sst und gibt sich Mühe, besonders anschauliche Beispiele zu finden. Seien es Viren, die mutieren, Krebszellen, die sich vermehren bis hin zum ?kosystem, das sich stetig entwickelt. Die ETH-Professorin hat an diesem Tag auch einen prominenten Zuh?rer – der Wissenschaftsm?zen Max R?ssler besucht sie in ihrem Labor am ETH-Departement für Biosysteme in Basel.
R?ssler stiftet jedes Jahr einen Preis an ETH-Forschende, die Ausserordentliches leisten und ihre Forschungsgruppe noch weiter ausbauen m?chten. Bereits zum 14. Mal wird der R?ssler-Preis vergeben. ?Wenn ich mir die Liste der Kolleginnen und Kollegen ansehe, die vor mir den Preis erhalten haben, erfüllt mich das mit Stolz. Es ist eine Ehre und zudem eine sehr grosszügige Unterstützung von jemandem, der aus pers?nlicher ?berzeugung die Wissenschaft aus privaten Mitteln f?rdert?, sagt Tanja Stadler.
Mathematiker:innen unter sich
Der Besuch ist gleich aus mehreren Gründen speziell: Nicht nur geht der Preis zum ersten Mal ans Departement für Biosysteme, er geht auch zum ersten Mal an eine Mathematikerin. Der St. Galler Max R?ssler studierte selbst Mathematik an der ETH Zürich und doktorierte 1966 über Bahnberechnungen in der Raumfahrt. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University kehrte er an die ETH zurück und war von 1967 bis 1978 Senior Scientist und Lehrbeauftragter am Institut für Operations-?Research. Tanja Stadler nutzt deshalb auch die Chance und zeigte Max R?ssler ein paar Formeln. ?Es kommt schliesslich nicht alle Tage vor, dass sich jemand auch für die Statistik hinter unserer Forschung interessiert.?, kommentierte die Preistr?gerin, schmunzelnd.
Worauf Tanja Stadler anspielt: Bekannt wurde die ETH-Forscherin w?hrend der Coronapandemie vor allem als Pr?sidentin der Nationalen Science Task Force. In dieser Funktion stand sie fast rund um die Uhr im Rampenlicht und versuchte die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Politik und die Bev?lkerung einzuordnen. Doch: Den Preis erh?lt Tanja Stadler nicht für ihr grosses Engagement in der Task Force, sondern für ihre grossartigen wissenschaftlichen Leistungen, wie die Preiskommission der ETH ausdrücklich betont.
R-Wert neu erkl?rt
Eine mathematische Gr?sse – der R-Wert, der angibt, wie viele andere Menschen von einer Person angesteckt werden – war über Monate in aller Munde. Wie einst in den Medien erkl?rt Tanja Stadler zwar auch bei diesem Besuch, wie sie und ihr Team den R-Wert ermitteln, aber sie nutzt auch die Gelegenheit, zu differenzieren: ?W?hrend der Pandemie haben wir oft über den R-Wert gesprochen, den wir aus den Fallzahlen ermittelt haben. Dafür brauchen wir zuverl?ssiges und konsistentes Testen. Was wir aber prim?r in unserer Forschung machen, ist den R-Wert aufgrund der genetischen Informationen eines Virus zu berechnen. Dies hat den Vorteil, dass wir zu Beginn von Ausbrüchen, wenn wir noch keine vollst?ndigen Daten haben, den R-Wert ermitteln k?nnen. Das hilft uns abzusch?tzen, wie gef?hrlich ein neuer Erreger sein k?nnte.? Um diese Art von Fragestellung kümmert sich die ETH-Forscherin übrigens nicht erst seit Corona – bereits 2014 forschte Tanja Stadler, daran, wie sich Ebola verbreitet.
Ihre Dissertation hat die Mathematikerin über ?evolution?re B?ume? an der TU München geschrieben, bevor sie 2008 als Postdoc in die Gruppe Theoretische Biologie von ETH-Professor Sebastian Bonhoeffer kam. In dieser Zeit fing sie an, sich speziell für Infektionskrankheiten zu interessieren. Im Jahr 2014 wurde sie Assistenzprofessorin am D-BSSE in Basel. Unterdessen ist ordentliche Professorin für ?Computergestützte Evolution? und hat 15 Mitglieder in ihrer Gruppe.
Viele Daten selber erheben
Ohne entsprechende Daten und Datenmengen geht in der Forschung gar nichts. Und so besucht die Preistr?gerin mit Max R?ssler zusammen auch das Sequenzierungslabor im Departement, wo ihre Forschungsgruppe - nicht nur, aber auch w?hrend Corona - unglaublich viele eigene Daten erhoben hat. Auch diese technische Komponente fasziniert Max R?ssler sehr: Welche genetischen Daten k?nnen diese Maschinen liefern? Wie leistungsf?hig sind sie? Wie kommen die Daten von der Maschine ins statistische Tool? Und was kostet ein solches Ger?t überhaupt?
Es ist genau diese Mischung aus Biologie, der F?higkeit Genome zu sequenzieren und den statistischen Methoden, welche Stadler entwickelt, die diese Forschung so spannend macht. ?Wir haben viele M?glichkeiten, genetische Daten zu erheben, aber es geht darum, diese nutzbar zu machen. Genau dafür brauchen wir die Mathematik. Wir eliminieren das Rauschen in den Daten und k?nnen sie eindeutiger zu- und besser einordnen. Im Endeffekt k?nnen wir damit relevantere Aussagen zu Epidemien machen?, so Stadler.
Der Virenbericht der Zukunft
Das Gefühl, Forschung zu machen, die von hohem gesellschaftlichem Nutzen ist, hat die Forscherin und ihre ganze Gruppe nachhaltig gepr?gt. Das zeigt sich auch darin, wie das Geld aus dem R?ssler-Preis eingesetzt werden soll. Auf einem grossen Retreat wird die Gruppe gemeinsam genau analysieren, was bei einer erneuten pandemischen Bedrohung aus der Statistik am dringlichsten gebraucht wird. Das Preisgeld soll dann verwendet werden, um die identifizierte Wissenslücke zu schliessen.
Und wo w?re Tanja Stadler gerne in zehn Jahren? ?Ich setze mich dafür ein, dass wir weltweit die zentralen Daten erheben, uns besser vernetzen, diese gemeinsam auswerten und den Menschen auf einfache Art und Weise zug?nglich machen. Ich stelle mir das als eine Art ?Infektionsbericht? vor ?hnlich dem Wetterbericht, bei dem die Menschen sehen k?nnen – ?oh aufpassen, Influenza zirkuliert jetzt gerade in Basel etwas st?rker – na da schütze ich mich doch lieber.?