Die nukleare Realität ist beunruhigend
Stephen Herzog forscht daran, wie die Kontrolle von Atomwaffen verbessert werden kann und schliesslich eine vollst?ndige Abrüstung m?glich wird. Für ihn sind Putins Drohungen ein Grund, das ?Gleichgewicht des Schreckens? grunds?tzlich in Frage zu stellen.
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?Ich forsche im Bereich nukleare Rüstungskontrolle.? Dieser Satz erzeugte jahrelang nur fragende Gesichter, wenn ich versuchte, meinen Freunden meine Arbeit zu erkl?ren. Schliesslich sind Atomwaffen für die meisten Menschen eine ziemlich abstrakte Sache, insbesondere da der Kalte Krieg schon Jahrzehnte vorbei ist.
Dies ?nderte sich mit der Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022. Der russische Pr?sident Wladimir Putin warnte davor, den Konflikt nuklear zu eskalieren, sollte der Westen die Ukraine unterstützen.1 Pl?tzlich mussten meine Kolleg:innen vom Center for Security Studies und ich den Medien und der Bev?lkerung erkl?ren, wie beunruhigend die nuklearen Realit?ten eigentlich schon immer waren.
Aus der nuklearen Dimension dieses Krieges ergeben sich zwei Imperative für die Forschung. Erstens müssen Expert:innen die Fakten so darstellen, dass es nicht als Panikmache verstanden wird. Zweitens sollten Wissenschaftler:innen einen Beitrag dazu leisten, die Zukunft sicherer und frei von nuklearen ?ngsten zu machen. Es geht also letztlich um die Frage: Wie k?nnen wir verhindern, dass Entscheidungstr?ger:innen wie Putin pl?tzlich die Welt mit nuklearen Sprengk?pfen bedrohen k?nnen?
Nukleare Risiken bleiben bestehen
Die US-Bombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki l?uteten das Atomzeitalter ein. Bald richteten die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion Atomwaffen auf die St?dte des jeweils anderen. Gestützt auf die Spieltheorie glaubte man, dass dieses ?Gleichgewicht des Schreckens? einen dritten Weltkrieg verhindern würde. Viele Forschende erkl?rten die neue Welt sogar für sicherer.
Ist die Welt wirklich sicherer? Heute besitzen neun L?nder rund 12.700 Atomsprengk?pfe.2 Die meisten St?dte in den Vereinigten Staaten, Russland, China und den europ?ischen NATO-Staaten k?nnen zu jeder Zeit in weniger als 30 Minuten mit ballistischen Raketen zerst?rt werden. Auch die neutrale Schweiz hat Bunker gebaut, um ihre Bev?lkerung vor einem Atomkrieg zu schützen.3
In einer nuklear bewaffneten Welt bergen Konfrontationen unermessliche Risiken. Stellen Sie sich vor, eine KI würde den Kalten Krieg und seine zahlreichen Krisen, wie z.B. die Kubakrise, 10, 100, oder vielleicht sogar 1.000 Mal durchspielen. In wie vielen F?llen würde die Menschheit aussterben, weil jemand doch den sprichw?rtlichen ?roten Knopf? drückt? Dass Glück vermutlich eine grosse Rolle dabei gespielt hat, dass Katastrophen ausgeblieben sind, macht mich skeptisch, wie sicher unserer nuklearen Zukunft ist.4
Eine unbequeme Verantwortung
Es ist keine leichte Aufgabe, über die globalen nuklearen Risiken und die Verwundbarkeit zu diskutieren. Diese Themen sind komplex und es gibt keine einfachen oder beruhigenden Antworten auf die meisten Fragen. Ich halte es für unethisch, über statistische Wahrscheinlichkeiten eines Atomwaffeneinsatzes in der Ukraine zu spekulieren. Ich halte den Einsatz von Atomwaffen weiterhin für unwahrscheinlich, trotzdem müssen wir uns aber mit den Risiken auseinandersetzen, da die Folgen verheerend w?ren.
?Nukleare Abschreckung ist eine Theorie. Putins Drohungen sollten uns daran erinnern, dass aus grauer Theorie sehr schnell Ernst für das ?berleben der Menschheit werden kann. Wie alle Theorien, müssen auch die der nuklearen Abschreckung zugrundeliegenden Behauptungen st?ndig überprüft werden.?Stephen Herzog
Nukleare Bedrohungen sind seit über 75 Jahren Teil des Gefüges der internationalen Sicherheit. Umfragen zeigen jedoch, dass die meisten Menschen lieber in einer Welt ohne Atomwaffen leben wollen. Letztendlich müssen wir entscheiden, ob wir Politiker:innen unterstützen, die den Status quo beibehalten, oder solche, die die nukleare Abrüstung anstreben.
Die Rolle der Wissenschaft
Um langfristig die nuklearen Gefahren zu eliminieren, müssen Entscheidungstr?ger:innen und wir alle anders über Atomwaffen sprechen. Aus diesem Grund habe ich kürzlich in einem Leitartikel des Magazins Science dafür pl?diert, zu erforschen, ob die atomare Abrüstung attraktiv und umsetzbar ist.6 Hier m?chte ich drei wichtige ?berlegungen darlegen, wie man anfangen k?nnte, die Diskussion über Atomwaffen zu ver?ndern:
- Forschende, die nukleare Abschreckung lediglich als ?Spiel mit dem Feuer? betrachten, riskieren, dass Regierungen und Menschen erst dann die Lehren aus einem Krieg ziehen werden, wenn es schon zu sp?t ist. Kritiker:innen hingegen werden Atomwaffen-Befürwortende nicht überzeugen, wenn sie nicht praktikable Alternativen aufzeigen, welche die Sicherheit der Staaten gew?hrleisten.
- Eine wichtige Frage ist zudem, wie wir Abrüstung kontrollieren k?nnen. Ich h?re oft das Argument, Atomwaffen k?nnten nicht auf eine überprüfbare Art und Weise abgeschafft werden. Die heutigen Verifizierungstechnologien sind aber bereits sehr vielversprechend. Dennoch braucht es weitere umfangreiche Forschungs- und Entwicklungsarbeiten, bevor die Gesellschaft und die politischen Entscheidungstr?ger:innen volles Vertrauen in diese Technologien haben k?nnen.
- So wie die Forschung die Strategie der nuklearen Abschreckung auf dem H?hepunkt des Kalten Krieges vorangetrieben hat, kann die Wissenschaft heute dazu beitragen, von dieser Strategie auch wieder loszukommen. Forschende haben die Aufgabe, nuklearen Risiken für die ?ffentlichkeit einzuordnen und zu erkl?ren.
Nukleare Abschreckung ist eine Theorie. Putins Drohungen sollten uns daran erinnern, dass aus grauer Theorie sehr schnell Ernst für das ?berleben der Menschheit werden kann. Wie bei allen Theorien, müssen auch die der nuklearen Abschreckung zugrundeliegenden Behauptungen st?ndig überprüft werden.
1 Bollfrass, A. K., and S. Herzog (2022). The War in Ukraine and Global Nuclear Order. Survival. DOI: externe Seite 10.1080/00396338.2022.2103255.
2 Kristensen, H. M., M. Korda, and R. Norris (2022). externe Seite Estimated Global Nuclear Warhead Inventories 1945–2022. Federation of American Scientists.
3 Hunt, J. (2017). externe Seite How ready is Switzerland for a nuclear disaster? SwissInfo.
4 Pelopidas, B. (2017). The Unbearable Lightness of Luck: Three Sources of Overconfidence in the Manageability of Nuclear Crises. European Journal of International Security. DOI: externe Seite 10.1017/eis.2017.6.
5 Herzog, S. (2022). Beyond Nuclear Deterrence. Science. DOI: externe Seite 10.1126/science.adf2194.