Die europäischen Länder täten gut daran, sich mit Gas auszuhelfen
Wenn sich die L?nder gegenseitig unterstützen, l?sst sich in Europa eine schwere Energiekrise wegen Gasknappheit vermeiden. Dies zeigt eine neue Analyse von Forschern der ETH Zürich.
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Das Wichtigste in Kürze
- Handeln die europ?ischen L?nder in Zeiten von Gasknappheit egoistisch, wird vor allem in Osteuropa viel Gas fehlen.
- Osteuropa ist verletzlich, weil die Eintrittspforten für Gas neu im Westen des Kontinents liegen.
- Handeln die L?nder solidarisch und reduzieren sie den Gasverbrauch freiwillig und vorausblickend, l?sst sich in Europa eine schwere Energiekrise verhindern.
Europa hat vor Putins Angriff auf die Ukraine viel Erdgas aus Russland bezogen. Weil die EU Russland mit Sanktionen belegt hat, fehlt dieses Gas. Eiligst haben die europ?ischen L?nder neue Lieferanten gesucht und gefunden. Dauert der Krieg jedoch lange an und werden die Sanktionen auch im n?chsten Winter aufrechterhalten, bleibt Gas knapp – vor allem dann, wenn der n?chste Winter kalt werden und die Menschen viel Gas fürs Heizen ben?tigen sollten. Ungeheizte Wohnungen und Industriebetriebe, die wegen Gasmangel nicht produzieren k?nnen, sind m?gliche Szenarien. Einzelne L?nder k?nnten daher versucht sein, die Versorgung der eigenen Bev?lkerung und Wirtschaft vor die Solidarit?t mit anderen L?ndern zu stellen.
Doch wie würde sich dieses egoistische Handeln auswirken? Und wie gross w?ren die Unterschiede zu einem solidarischen Handeln? Forschende der Gruppe von Giovanni Sansavini, Professor für Zuverl?ssigkeits- und Risiko-Engineering an der ETH Zürich, haben dies in Modellrechnungen untersucht. Ein wichtiges Ergebnis ihrer Studie: Solidarisch zusammenarbeiten lohnt sich. Europa k?nnte damit zumindest eine starke Energieknappheit abwenden.
Mit einer solidarischen Zusammenarbeit ist gemeint, dass sich die L?nder bei Gasknappheit gegenseitig helfen und dies in bilateralen Abkommen vertraglich regeln. Dies würde beinhalten, dass ein Land seinen Energiebedarf freiwillig senkt, um andere L?nder mit Gas zu versorgen, wenn diese es dringend ben?tigen. Bis jetzt gibt es in Europa bloss acht solcher Abkommen.
Der solidarischen Zusammenarbeit gegenüber steht das egoistische Handeln. Einige mitteleurop?ische L?nder wie Deutschland, Belgien und die Niederlande würden damit besser fahren und h?tten mehr Gas zur Verfügung. Dadurch würde allerdings das Gas in anderen L?ndern knapp. Leidtragende w?ren vor allem L?nder im Osten des Kontinents: von Finnland über das Baltikum bis in den Balkan.
Umgekehrte Gasstr?me in Europa
Hauptgrund dafür ist, dass sich nach dem Wegfall von russischem Gas die Versorgungswege in Europa grundlegend ver?ndert haben. Zuvor belieferte Russland die L?nder im Osten Europas inklusive Finnland. Dieses grenzt zwar an das erdgasf?rdernde Norwegen, doch es gibt keine Gaspipeline zwischen den beiden nordischen Staaten.
Nun hat Europa das russische Gas vor allem mit Flüssigerdgas (LNG, für Englisch liquefied natural gas) kompensiert, das per Schiff prim?r aus den USA, Katar und Nigeria angeliefert wird. Die meisten H?fen zum Umschlag von LNG liegen am Atlantik und am Mittelmeer, mit Spanien als gr?sstem Umschlagplatz. Weiterhin hoch bleiben die Produktion in Norwegen sowie Importe aus Algerien, die über Pipelines nach Spanien und Italien gelangen.
Sprich: Neu sind die L?nder im Westen Europas die Eintrittspforten für Gas, und die L?nder im Osten und Südosten stehen jetzt am Ende der Versorgungskette.
?Die europ?ische Gasinfrastruktur ist allerdings nicht für diese Verlagerung der Str?me ausgelegt?, sagt Paolo Gabrielli, Wissenschaftler in Sansavinis Gruppe und Mitautor der Studie. Bei hoher Gasnachfrage werden die grenzüberschreitenden Pipelines am Limit betrieben, vor allem in Südosteuropa. ?Dies ist der Grund, warum Südosteuropa besonders verletzlich für eine Gasknappheit und auf Abkommen mit anderen L?ndern angewiesen ist.? Wenn man die bestehenden Engp?sse beheben wolle, brauche es zus?tzliche Investitionen in die Gasinfrastruktur.
?Die Nachfrage freiwillig reduzieren schmerzt weniger, als wenn ein Land sie reduzieren muss, weil keine Energie verfügbar ist.?Jacob Mannhardt
Basierend auf ihren Forschungsergebnissen fordern die Wissenschaftler Politiker:innen auf, die Verteilung und Nutzung von Gas l?nderübergreifend zu koordinieren. Ausserdem müssten die Anreize für Privatpersonen und Unternehmen in ganz Europa erh?ht werden, ihren Gasverbrauch kontrolliert zu senken, wo immer dies m?glich ist, auch wenn keine unmittelbare Knappheit besteht. Denn dies hilft, die Gasspeicher m?glichst gefüllt zu lassen, um für einen kalten Winter gewappnet zu sein.
?Die Last gleichm?ssig zu verteilen, indem man freiwillig die Nachfrage reduziert, ist wesentlich weniger schmerzhaft, als wenn ein Land unfreiwillig die Nachfrage massiv reduzieren muss, weil keine Energie verfügbar ist?, sagt Jacob Mannhardt, Doktorand in der Gruppe von ETH-Professor Sansavini und Erstautor der Studie. ?Die Zusammenarbeit unter den L?ndern und vorausschauende Energieeinsparungen sind am kosteneffizientesten, um eine schlimme Energiekrise zu vermeiden.?
Klimasch?den und Abh?ngigkeit reduzieren
Die ETH-Wissenschaftler analysierten in ihrer Studie das gesamte Energiesystem, also neben Gas auch andere Energietr?ger und das Elektrizit?tsnetz. So berechneten sie, dass sich 15 Prozent des ausfallenden russischen Erdgases auch kompensieren liesse, wenn Gaskraftwerke abgeschaltet und Strom stattdessen wieder vermehrt mit Kohle produziert würde. Allerdings w?re dies klimasch?dlich: Allein dadurch würden die Treibhausgasemissionen in den Bereichen Strom- und W?rmeerzeugung um fünf Prozent steigen.
?Wir zeigen, dass die LNG-Importe die Gasversorgung in Europa stabilisiert haben?, sagt Gabrielli. ?Aber eine Lehre sollte Europa aus dieser Energiekrise ziehen: Es ist gef?hrlich, bei der Energieversorgung von einem fremden Land abh?ngig zu sein. Andere L?nder als Lieferanten zu nutzen, verschiebt die Abh?ngigkeit bloss.?
Um sch?dliche Auswirkungen auf das Klima und neue Abh?ngigkeiten zu vermeiden, empfehlen die Forscher, das derzeitige Momentum zu nutzen, um die Investitionen in die heimische Energieversorgung sowie den Ausbau erneuerbarer Technologien, der Elektrifizierung und des europ?ischen Stromnetzes zu verst?rken.
Literaturhinweis
Mannhardt J, Gabrielli P, Sansavini G: Collaborative and selfish mitigation strategies to tackle energy scarcity: The case of the European gas crisis. iScience 2023, externe Seite doi: 10.1016/j.isci.2023.106750