Damit die chemische Industrie klimaneutral wird, müssen wir auch die Nachfrage reduzieren
Komplett neue Herstellungstechnologien sind notwendig, aber in vielen F?llen nicht ausreichend, um die chemische Produktion klimaneutral zu gestalten, sagt Paolo Gabrielli.
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Kunststoffe, Dünger, L?sungsmittel – Chemie ist praktisch überall. Und in den allermeisten chemischen Produkten steckt heute als Rohstoff Erd?l oder Erdgas drin. Ihre Herstellung ist für etwa fünf Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Damit die chemische Industrie fit wird für eine klimaneutrale Netto-Null-Gesellschaft, haben wir im Wesentlichen folgende Optionen: Wir k?nnen die fossilen Rohstoffe durch Biomasse, Abf?lle oder CO2 ersetzen, das aus Industrieabgasen oder der Atmosph?re abgeschieden wurde. Oder die Industrie macht weiter wie bisher und speichert Abgase dauerhaft im Untergrund.1 Letztlich haben alle diese Ans?tze ihre Berechtigung. Je nach ?rtlich vorhandenen Land- und Wasserreserven, erneuerbaren Stromquellen und M?glichkeiten zur Kohlenstoff-Speicherung werden regional andere L?sungen im Vordergrund stehen.
?Eine Netto-Null-Chemieindustrie ohne Kreislaufwirtschaft und ohne nachfrageseitige Massnahmen wird in vielen Weltregionen schwierig bis unm?glich.?Paolo Gabrielli
Ein solcher technologischer Wandel in der Produktion wird in vielen Weltregionen und bei gewissen Waren allerdings nicht ausreichen, um die Netto-Null-Ziele zu erreichen.2 Zus?tzlich müssen wir konsequent auf eine Kreislaufwirtschaft setzen: Produkte müssen künftig so konzipiert werden, dass sie langlebig sind und wiederverwertet werden k?nnen. Und wir müssen die industrielle Transformation mit Massnahmen kombinieren, welche die Nachfrage nach chemischen Produkten verringern.3
Wahrnehmung muss sich ?ndern
Nehmen wir als Beispiel die Kunststoffe. Heute führen wir nur etwa 15 Prozent der Kunststoffabf?lle dem Recycling zu, und davon werden 40 Prozent, also beinahe die H?lfte, w?hrend des Recyclingprozess wieder ausgeschieden. Dies, weil entweder die spezifische Kunststoffart gar nicht wiederverwertet werden kann oder weil die Qualit?t zu schlecht ist.4 Kollegen an der ETH Zürich haben berechnet, dass eine Recyclingquote von über 75 Prozent erforderlich w?re, um im Jahr 2030 Kunststoffe nachhaltig und innerhalb der ?kologisch definierten planetaren Grenzen zu bewirtschaften.5 Wir brauchen daher dringend bessere Sammel- und Recyclingverfahren.
Ausserdem haben die Kollegen berechnet, dass Kreislaufwirtschaft und maximale Recyclingquote nicht ausreichen werden, um die von Experten bis ins Jahr 2050 prognostizierte starke Nachfragezunahme nach Kunststoffprodukten zu decken. Es wird in diesem Bereich nicht gehen ohne eine Verringerung der Nachfrage gegenüber diesen prognostizierten Werten. Ein Ansatz dazu ist, weniger Kunststoffprodukte zu nutzen und sie l?nger zu verwenden. Heute nehmen wir Kunststoffartikel und viele andere chemisch hergestellte Produkte als billige Massen- und Wegwerfware wahr. Das muss sich ?ndern.
Ganz ?hnliches gilt für Düngemittel. Wir konnten jüngst in einer Studie zeigen, dass eine klimaneutrale Produktion von Stickstoffdünger grunds?tzlich m?glich ist. Doch auch hier hilft es, nicht ausschliesslich auf der Produktionsseite, sondern auch auf der Nachfrageseite anzusetzen. Etwa indem Landwirte beim Düngen Stickstoff effizienter nutzen (Precision Farming), indem wir Lebensmittelverluste oder eine Ern?hrung mit weniger Fleisch und Milchprodukten f?rdern. Denn die Herstellung von tierischen Nahrungsmitteln ben?tigt mehr Ressourcen.6
Verschiebung der Wirtschaftsmacht
Eine Netto-Null-Chemieindustrie ohne Kreislaufwirtschaft und ohne nachfrageseitige Massnahmen zu erreichen, wird in vielen Weltregionen aus unterschiedlichen Gründen schwierig bis unm?glich werden, wie wir in einer neuen Studie zeigen2: In den meisten europ?ischen L?ndern sind die Landressourcen beschr?nkt, was die Nutzung von Biomasse als Rohstoff einschr?nkt. Im Nahen Osten und in Nordafrika erschwert die Wasserknappheit den Anbau von Biomasse und die Herstellung von Wasserstoff, der ben?tigt wird, wenn CO2 als Rohstoff für die chemische Industrie dienen soll. Dasselbe gilt für andere grosse Produzenten von Chemieprodukten wie China und Indien.
Ein Wandel hin zu einer Netto-Null-Chemieindustrie k?nnte daher zu einer Umstrukturierung des internationalen Handels mit Chemikalien führen. Weil heute Erd?l und Erdgas wichtige Ausgangsstoffe für die chemische Produktion sind, spielen L?nder mit fossilen Rohstoffen eine zentrale Rolle. In Zukunft k?nnte sich die Produktion verlagern in Regionen mit reichlichen Land- und Wasserressourcen wie zum Beispiel nach Nord- und Südamerika. In L?ndern wie den USA, Kanada, Chile und Brasilien kann auf Ackerland Biomasse zur industriellen Nutzung angebaut werden, ohne die Nahrungsmittelversorgung zu gef?hrden. Ausserdem stehen Wasser und Land zur Verfügung, um erneuerbaren Strom und Wasserstoff zu erzeugen.
Alle L?nder haben jedoch die Chance, ihre Abh?ngigkeit von Chemikalienimporten zu verringern und ihre Versorgungssicherheit zu erh?hen, wenn sie auf eine Kreislaufwirtschaft und auf nachfrageseitige Massnahmen setzen.
1 Gabrielli P, Gazzani M, Mazzotti M: The Role of Carbon Capture and Utilization, Carbon Capture and Storage, and Biomass to Enable a Net-Zero-CO 2 Emissions Chemical Industry. Industrial & Engineering Chemistry Research 2020. 59: 7033, doi: externe Seite 10.1021/acs.iecr.9b06579
2 Gabrielli P, Rosa L, Gazzani M, Meys R, Bardow A, Mazzotti M, Sansavini G: Net-zero emissions chemical industry in a world of limited resources. One Earth 2023, 6, doi: externe Seite 10.1016/j.oneear.2023.05.006
3 Meng F et al.: Planet-compatible pathways for transitioning the chemical industry. PNAS 2023. 120, doi: externe Seite 10.1073/pnas.2218294120
4 Syberg K: Beware the false hope of recycling. Nature 2022. 611: S6, doi: externe Seite 10.1038/d41586-022-03645-0
5 Bachmann M, Zibunas C, Hartmann J, Tulus V, Suh S, Guillén-Gosálbez G, Bardow A: Towards circular plastics within planetary boundaries. Nature Sustainability 2023, doi: externe Seite 10.1038/s41893-022-01054-9
6 Rosa L, Gabrielli P: Energy and food security implications of transitioning synthetic nitrogen fertilizers to net-zero emissions. Environmental Research Letters 2023, 18: 014008, doi: externe Seite 10.1088/1748-9326/aca815