Unsere visuelle Wahrnehmung ist rationaler als wir denken
Unsere visuelle Wahrnehmung orientiert sich st?rker am Nutzen von Informationen als bisher angenommen. Dies zeigen Forschende der ETH Zürich und der Universit?t Zürich in einer Reihe von Experimenten. Kognitive Verzerrungen k?nnen bereits auf der Netzhaut beginnen.
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Das Wichtigste in Kürze
- Bereits unsere Netzhaut versucht, Informationen m?glichst nützlich zu verarbeiten und bildet die Welt nicht vollst?ndig ab.
- Kognitive Verzerrungen beginnen lange bevor wir bewusst über eine Sache nachdenken.
- Diese Ergebnisse best?tigten sich auch bei einer Künstlichen Intelligenz, welche die gleichen Aufgaben l?sen musste, wie die menschlichen Studienteilnehmenden.
Sind unsere Sinne dazu da, die Welt m?glichst vollst?ndig abzubilden, oder dienen sie unserem ?berleben? In den Neurowissenschaften war ersteres lange die vorherrschende Sicht. Die Betonung liegt auf war, denn in den letzten 50 Jahren haben Psychologen wie die Nobelpreistr?ger Daniel Kahnemann und Amos Tversky gezeigt, dass die menschliche Wahrnehmung oft alles andere als vollst?ndig und sehr selektiv ist.
Inzwischen gibt es eine ganze Liste kognitiver Verzerrungen, die experimentell nachgewiesen wurden. Eine der wichtigsten ist zum Beispiel der Best?tigungsfehler, im Fachjargon auch confirmation bias genannt: Menschen verarbeiten neue Informationen oft so, dass sie ihre eigenen ?berzeugungen und Erwartungen best?tigen.
Doch unter welchen Bedingungen diese Verzerrungen wirksam sind und wann genau im Wahrnehmungsprozess sie beginnen, war bis anhin noch nicht vollst?ndig gekl?rt. Eine Studie von Forschenden um ETH-Professor Rafael Polania und Professor Todd Hare von der Universit?t Zürich, die kürzlich in der Fachzeitschrift externe Seite Nature Human Behaviour erschienen ist, zeigt nun, dass das Gehirn die visuelle Wahrnehmung von Dingen bereits auf der Netzhaut anpasst, wenn uns das zu nutzen scheint. Oder anders gesagt: Wir sehen Dinge unbewusst verzerrt, wenn es um unser ?berleben, unseren Wohlstand oder andere Interessen geht.
Wie schr?g sind die Streifenmuster?
Polania und seine Koautor:innen konnten in einer Reihe von Experimenten belegen, dass Menschen die gleichen Dinge unterschiedlich wahrnehmen, wenn sich der Entscheidungskontext ver?ndert. In der Studie mussten 86 Versuchspersonen immer wieder zwei schwarz-weiss gestreifte Muster – sogenannte Gabor-Patches – vergleichen und beurteilen, welches davon eher 45 Grad geneigt ist. Dabei galt es m?glichst viele Punkte zu sammeln.
W?hrend sie in der ersten Runde immer 15 Punkte für die richtige Antwort erhielten, ?nderte sich der Entscheidungskontext in der zweiten Runde: Es gab kein richtig oder falsch mehr. Stattdessen stieg die Punktzahl kontinuierlich von 0 bis 45 Grad. In beiden Runden sahen die Proband:innen die gleichen Paare.
Die Versuchspersonen sollten in beiden Runden eigentlich zum selben Ergebnis kommen. Denn wenn wir Menschen etwas sehen, wandelt unsere Netzhaut das reflektierte Licht in visuelle Informationen um, die über Nervenbahnen an unser Gehirn weitergeleitet werden. Dort werden sie mit unserem Vorwissen und unseren Erfahrungen abgeglichen und zu einem dreidimensionalen Bild verarbeitet. Die visuelle Information war in beiden Runden dieselbe.
Was wir sehen, h?ngt vom Kontext ab
Als die Forschenden das Experiment auswerteten, erkannten sie, dass die Versuchspersonen ihre Wahrnehmung in der zweiten Runde anpassten, um m?glichst viele Punkte zu erzielen. Wenn sie die Welt tats?chlich objektiv sehen würden, dürfte es eigentlich keine Unterschiede zwischen beiden Runden geben.
Unabh?ngig vom Entscheidungskontext müssten die Teilnehmenden die Neigung der Gabor Patches immer gleich einsch?tzen. Dem war aber nicht so: ?Menschen passen ihre Wahrnehmung flexibel und unbewusst an, wenn sie davon profitieren?, erkl?rt Polania das Ergebnis.
Für den ETH-Professor und seine Koautor:innen greift es daher zu kurz, kognitive Verzerrungen als Fehler zu sehen, die dazu führen, dass unsere Urteile und Entscheidungen ungenau oder irrational sind. ?Da unsere kognitiven F?higkeiten begrenzt sind, ist es unter gewissen Umst?nden sogar vernünftig, die Welt verzerrt oder selektiv wahrzunehmen?, so der Neurowissenschaftler.
Schon die Netzhaut fokussiert auf den Nutzen
Unsere visuelle Wahrnehmung scheint sich st?rker am potenziellen Nutzen von Informationen zu orientieren als bisher angenommen. Die Forschenden konnten in einem weiteren Experiment zeigen, dass bereits unsere Netzhaut versucht, Informationen m?glichst gewinnbringend zu verarbeiten.
?Bereits in den ersten Momenten des Sehens, versuchen wir unseren Nutzen zu maximieren. Kognitive Verzerrungen beginnen lange bevor wir bewusst über eine Sache nachdenken?, sagt Polania.
Das liegt daran, dass w?hrend des Wahrnehmungsprozesses viele Informationen verloren gehen. Deshalb ist es für das Gehirn effizienter, so früh wie m?glich zu filtern, Informationen zu priorisieren und auszuw?hlen.
KI filtert visuelle Informationen wie der Menschen
Um zu belegen, wann visuelle Informationen verzerrt werden, absolvierte eine Gruppe von Proband:innen erneut den Test mit variabler Punktzahl. Im Unterschied zum ersten Experiment wurden die Gabor-Patch-Paare jedoch im oberen Bereich des visuellen Testfeldes angezeigt. Nach diesem Training kam die eigentliche Aufgabe: Die Teilnehmenden sahen immer wieder einen einzelnen Gabor-Patch im oberen oder unteren Bereich des Testfelds und mussten einsch?tzen, wie schr?g dieser ist.
Dabei stellten die Forschenden fest, dass die Studienteilnehmer die Neigung der einzelnen Patches unterschiedlich bewerteten, je nachdem, ob sie im unteren oder oberen Bereich des Testfelds erschienen. Wenn die Proband:innen den Patch oben sahen, passte sich ihre Wahrnehmung sofort der Logik der Nutzenmaximierung an, die sie zuvor trainiert hatten. Erschien der Patch unten, war dies nicht der Fall.
Die Studienautor:innen testeten diese Ergebnisse auch anhand einer künstlichen Intelligenz (KI), welche die gleichen Experimente durchlief wie die menschlichen Versuchspersonen. Auch die KI h?rte bereits ganz am Anfang ihrer Informationsverarbeitung auf, die Welt vollst?ndig abzubilden, um im Experiment eine m?glichst hohe Punktezahl zu erzielen. Sie wies die gleichen kognitiven Verzerrungen auf, welche die Forschenden bei Menschen beobachteten.
Biases gehen tiefer als gedacht
Die Ergebnisse der Studie k?nnten auch ein neues Licht auf die Diskussion über Biases bei Menschen und künstlich intelligenten Systemen werfen. Vielleicht sind diese Verzerrungen deshalb so schwierig zu identifizieren und zu ?ndern, weil sie ein unbewusster Teil des Sehens sind. Sie wirken, lange bevor wir uns Gedanken zu einer Sache machen k?nnen.
Dass unsere Wahrnehmung zudem eher darauf programmiert ist unseren Nutzen zu erh?hen, als die Welt vollst?ndig abzubilden, macht die Sache nicht einfacher. Nichtsdestotrotz k?nnen uns die Ergebnisse der Studie dabei helfen, neue Wege zu finden, um Vorurteile zu erkennen und zu korrigieren.
Literaturhinweis
Schaffner J, Dongqi Bao S, Tobler P, Hare T, Polania R, Sensory perception relies on fitness-maximizing codes, Nature Human Behaviour, ver?ffentlicht am 27 April 2023, doi: externe Seite 10.1038/s41562-023-01584-y