Die Meere im Extremzustand
Die Ozeane werden aktuell von einer aussergew?hnlichen Hitzewelle erfasst, deren Intensit?t Klimaforschende überrascht. Umweltphysiker Nicolas Gruber ordnet ein.
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Rekordtemperaturen im Mittelmeer.1 Riesige Hitzewelle im Nordatlantik.2 Die Temperatur der Meere auf H?chststand3 – Seit dem Frühsommer ist die Fieberkurve der Ozeane ein mediales Thema. W?hrend das für viele Menschen in der Schweiz wahrscheinlich das erste Mal war, dass sie von Hitzewellen im Meer h?rten, kamen diese Meldungen für mich wenig überraschend.
Als Klimaforschende verstehen wir sehr gut, wie die menschgemachte globale Erw?rmung auch die Temperatur der Meere erh?ht. Der Ozean ist der eigentliche W?rmepuffer im Klimasystem der Erde und nimmt mehr als 90 Prozent der zus?tzlichen W?rmeenergie auf, die durch Treibhausgase wie CO2 entsteht. So ist es per se auch nicht erstaunlich, dass Hitzewellen im Meer h?ufiger und intensiver werden.4 Aber was derzeit in den Meeren passiert, trifft mich unerwartet: Die Intensit?t und das Ausmass der Hitzewellen ist enorm, und die Schnelligkeit der Erw?rmung erfüllt mich mit Sorge.
Auf unbekanntem Terrain
In den letzten Wochen hat die globale Durchschnittstemperatur der Meeresoberfl?che mit 21,1 Grad Celsius den h?chsten jemals gemessenen Wert erreicht. Das ist 0,3 Grad w?rmer als die bisherige Rekordtemperatur zu dieser Jahreszeit. Der Verlauf 2023 liegt seit dem Frühling rund 1 Grad über dem Mittelwert der Jahre 1982 bis 2011.
Ohne Zweifel: die aktuellen Meerestemperaturen sind absolut aussergew?hnlich. Der Ozean bewegt sich auf unbekanntem Terrain – und die Klimaforschung tut sich schwer damit, diese Bewegungen zu antizipieren.
Ein Produkt verschiedener Faktoren
Welche Faktoren die Meerestemperatur so sprunghaft auf diese neuen H?chstwerte gebracht haben, ist noch nicht umfassend gekl?rt. Sicher ist der aufkommende El Ni?o ein wichtiger Treiber. Wir wissen aus der Vergangenheit, dass ein El Ni?o die global gemittelte Meeresoberfl?chentemperatur um etwa 0,1 bis 0,2 Grad Celsius erh?ht. Dieser Effekt kommt im Schnitt aber eher sp?ter im Jahr, wenn der El Ni?o um die Jahreswende herum sein Maximum erreicht.
Des Weiteren beobachten wir zurzeit im Nordpazifik und im Nordatlantik zwei riesige Hitzewellen, die schon Anfang Jahr begannen und sich in den letzten Monaten intensivierten und ausdehnten. Diese Kombination von El Ni?o und extratropischen Hitzewellen treibt die globale Meerestemperatur enorm in die H?he, insbesondere da es zurzeit kaum eine Meeresregion gibt, die deutlich kühler ist als normal.
Ein perfekter Sturm
Fragt sich: Ist diese Kombination dem Zufall geschuldet – oder gibt es Abh?ngigkeiten? Meiner Einsch?tzung nach ist es zu einem grossen Teil tats?chlich Zufall. Zwar k?nnte die Hitzewelle im Nordpazifik durchaus durch den El Ni?o verst?rkt worden sein, ?hnlich wie w?hrend der ?Blob? genannten Monster-Hitzewelle im Nordpazifik von 2013 bis 2015. Es gibt aber keine Hinweise auf eine Verbindung des El Ni?o mit der Hitzewelle im Nordatlantik.
Daher argumentiere ich, dass wir es mit einem perfekten Sturm (Englisch: perfect storm) zu tun haben – einer aussergew?hnlichen Situation bei der verschiedene Faktoren zuf?lligerweise so zusammenkommen, dass sie sich gegenseitig verst?rken. Man muss dabei aber auch festhalten: Ohne die menschgemachte Erderw?rmung würde dieser perfekte Sturm nie derart hohe Temperaturen generieren.
Stabile Hochdrucklagen f?rdern Hitzewellen
W?hrend der Zeitpunkt einer marinen Hitzewelle also gr?sstenteils zuf?llig ist, gibt es Bedingungen, die deren Bildung begünstigen. Dazu geh?ren sogenannte stabile Hochdrucklagen – grossr?umige Sch?nwetterinseln, die sich über l?ngere Zeit aufrechterhalten und so Hitzewellen f?rdern k?nnen, sowohl an Land wie auch im Meer.
Eine wichtige Rolle spielt dabei die Zirkulation der Atmosph?re und des Ozeans ausserhalb der Tropen. Zirkulation bezeichnet die grossskaligen Str?mungen, wie zum Beispiel der Jetstream in der Atmosph?re oder die Tiefenwasserpumpe im Nordatlantik.
In einer idealen Welt k?nnten wir zukünftige Zirkulationsmuster modellieren und so günstige Bedingungen für Hitzewellen frühzeitig identifizieren. Leider lassen sich die stabilen Hochdrucklagen zugrundeliegenden Zirkulationsmuster nicht weiter als für ein paar Tage oder maximal ein paar Wochen vorhersagen. Das liegt vor allem an den kleinr?umigen Turbulenzen, die dazu führen, dass zum Beispiel zwei m?gliche Entwicklungen des Wetters aufgrund kleiner Unterschiede in den Anfangs- oder Randbedingungen weit auseinanderdriften. Ein Ph?nomen, das oft als Schmetterlingseffekt bezeichnet wird.
?Die Klimaforschung ist weiterhin gefordert, insbesondere die Aufl?sung und die Genauigkeit ihrer Modelle weiterzuentwickeln, um ?nderungen in der Zirkulation und damit in den Wetterlagen abbilden zu k?nnen.?Nicolas Gruber
Wenn wir also den Einzelfall schon nicht bestimmen k?nnen, so sollten wir doch wenigstens vorhersagen k?nnen, ob solche stabilen Zirkulationsmuster mit der Klimaerw?rmung ?fters und l?nger vorkommen, sprich: ob die Bedingungen für Hitzewellen h?ufiger werden. Doch genau hier hapert es.
Zirkulation im Unsch?rfetrog
Es gibt zu dieser Frage in den Klimawissenschaften wenig Konsens, genauso wie wir nicht voraussagen k?nnen, ob El Ni?o in Zukunft h?ufiger oder seltener vorkommen wird. Wir sind uns auch nicht wirklich einig, ob sich die Nordatlantische Tiefenwasserpumpe stark abschw?chen wird oder nicht. Oder ob der Jetstream in der Atmosph?re anders verlaufen wird. Das sind alles relevante Fragen, die stark bestimmen, wie sich der Klimawandel in den verschiedenen Regionen der Welt genau auswirken wird.
All diesen Fragen ist gemein, dass die Zirkulation in der Atmosph?re und im Ozean nicht nur durch grossskalige Prozesse bestimmt wird, sondern auch wesentlich modifiziert wird durch kleinr?umige Prozesse. Das sind Wetterprozesse wie Konvektion, Wolkenbildung, Gewitter oder Stürme – Vorg?nge, die auf Skalen von einem bis wenigen Kilometern stattfinden. In anderen Worten: Die Zirkulation ist ein Ph?nomen, das durch Wechselwirkungen zwischen allen r?umlichen Skalen bestimmt wird.
Und genau diese Skaleninteraktionen sind in den Klimamodellen, die wir heute typischerweise einsetzen, unterbunden. Das liegt prim?r an der zu geringen Aufl?sung dieser Modelle. Mit Gitterabst?nden von derzeit rund hundert Kilometern sind sie zu wenig scharf, um viele elementare Vorg?nge des Wetters in der Atmosph?re oder im Ozean korrekt darzustellen. Doch gerade solche kleinr?umigen Wetterprozesse beeinflussen Grosswetterlagen stark (und umgekehrt) – wir müssen sie heute jedoch prim?r absch?tzen oder mit stark vereinfachenden Methoden modellieren, was zu grossen Unsicherheiten führt.
Die Klima- und Wetterforschung ist also weiterhin gefordert, ihre Modelle weiterzuentwickeln, insbesondere was die Aufl?sung und die Genauigkeit betrifft, um ?nderungen in der Zirkulation und damit in den Wetterlagen abbilden zu k?nnen. Daran arbeiten wir an der ETH Zürich zusammen mit MeteoSchweiz im Projekt EXCLAIM6 und auf internationaler Ebene mit EVE.7
Wir versprechen uns davon ein detaillierteres Verst?ndnis der Zirkulation und damit letztlich mehr Konsens in den grossen Fragen der Klimaforschung. Und vor allem brauchen wir die Genauigkeit von solchen lokalen bis regionalen Absch?tzungen des Klimawandels, um uns optimal anpassen zu k?nnen.
1 20minuten: externe Seite So warm war das Mittelmeer seit Messbeginn noch nie
2 SRF: externe Seite Meeresoberfl?chen erreichen Rekordtemperatur
3 Tagesanzeiger: externe Seite Noch nie war der Nordatlantik im Frühsommer so warm
4 Fr?licher TL, Fischer EM, Gruber N. (2018). Marine heatwaves under global warming. Nature, 560(7718), 360–364. externe Seite https://doi.org/10.1038/s41586-018-0383-9
5 externe Seite Climate Reanalyzer, University of Maine, USA. (Annotations by the author).
6 Exclaim: Projekt-Website, Beitrag in ETH-News und Beitrag im Zukunftsblog
7 EVE: externe Seite Earth Virtualization Engines? siehe auch externe Seite Eve4climate