Neuroprothesen mit Signalen, die das Gehirn versteht
Seit einigen Jahren gibt es Prothesen, die an das Nervensystem angeschlossen sind. Nun legen Forschende an der ETH Zürich nahe, dass solche Neuroprothesen besser funktionieren, wenn sie Signale verwenden, die der Natur nachempfunden sind.
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In Kürze
- Neuroprothesen sind elektromechanische Ger?te, die mit dem Nervensystem verbunden sind. Noch k?nnen sie kein natürliches Gefühl erzeugen, sondern führen oft zu unangenehmen Missempfindungen, die sich wie ein Kribbeln auf der Haut anfühlen.
- Das k?nnte daran liegen, dass sie das Nervensystem überstimulieren. Forschende an der ETH Zürich gemeinsam mit Kolleg:innen in Deutschland, Serbien und Russland schlagen vor, dass Neuroprothesen biomimetische Signale aussenden, damit sie vom Gehirn besser verstanden werden.
- Die neuen Erkenntnisse sind für Arm- und Beinprothesen, wie auch für eine Reihe von anderen Instrumenten und Apparaten – wie etwa Wirbels?ulenimplantate oder Elektroden für die Hirnstimulation – relevant.
Vor einigen Jahren erregte das Forschungsteam um Stanisa Raspopovic vom Neuroengineering Lab der ETH Zürich weltweit Aufsehen, als die Forschenden berichteten, dass ihre Beinprothesen es Amputierten erstmals erlaubten, den Ersatzk?rperteil zu spüren. Denn im Unterschied zu aktuell erh?ltlichen Beinprothesen, die amputierte Personen einfach stützen, waren die Prothesen der ETH-Forschenden mittels implantierten Elektroden mit dem Ischiasnerv im Oberschenkelstumpf verbunden.
Dadurch konnten die Neuroprothesen dem Gehirn Informationen übermitteln, etwa über die sich beim Gehen st?ndig ?ndernde Druckbelastung an der Fusssohle der Prothese. Das führte dazu, dass die Probanden dem Ersatzk?rperteil mehr vertrauten – und etwa auch auf schwierigem Untergrund rascher gehen konnten. ?Im Unterschied zu unserer experimentellen Beinprothese sind aktuelle Neuroprothesen allerdings noch nicht in der Lage, ein natürliches Gefühl zu erzeugen. Oft führen sie stattdessen zu unangenehmen Empfindungen wie etwa einem Kribbeln auf der Haut?, sagt Raspopovic.
Wahrscheinlich liegt das auch daran, dass aktuelle Neuroprothesen sich regelm?ssig wiederholende elektrische Pulsationen verwenden, um das Nervensystem zu stimulieren. ?Das ist unnatürlich und ineffizient?, sagt Raspopovic. Wie er und sein Team in einer soeben ver?ffentlichten Publikation am Beispiel ihrer Beinprothesen nun zeigen, lohnt es sich, bei der Entwicklung der n?chsten Generation von Neuroprothesen auf eine biomimetische Stimulation zu setzen, also auf Signale, die der Natur nachempfunden sind.
Modell simuliert Nervenaktivit?t in der Fusssohle
Um solche biomimetischen Signale erzeugen zu k?nnen, entwickelte Natalija Katic, eine Doktorandin aus Raspopovics Forschungsgruppe, ein Computermodell namens FootSim. Es stützt sich auf Daten von Forschenden aus Kanada, die die Aktivit?t von speziellen Sinneszellen, von so genannten Mechanorezeptoren, in der Fusssohle aufzeichneten, w?hrend sie die Füsse von gesunden Probanden an verschiedenen Stellen mit einem vibrierenden Stab berührten.
Das Modell simuliert das dynamische Verhalten einer Vielzahl von Mechanorezeptoren in der Fusssohle und errechnet die Nervensignale, die sich vom Fuss blitzschnell beinaufw?rts in Richtung Gehirn fortbewegen. Dies vom Moment an, da der Fuss mit der Ferse auf den Boden aufsetzt, dann das Gewicht des K?rpers über die Fussaussenkante abrollt, bis die Zehen wieder für den n?chsten Schritt hochgezogen werden. ?Das Modell zeigt uns auf, wie sich die Sinneszellen in den Fusssohlen w?hrend dem Gehen oder Rennen verhalten, was experimentell unm?glich zu messen ist?, sagt Katic.
Informationsüberflutung im Rückenmark
Wie gut diese vom Modell errechneten biomimetischen Signale mit echten Nervensignalen übereinstimmen, prüfte Giacomo Valle, ein Postdoc aus Raspopovics Forschungsgruppe mit Kolleginnen und Kollegen in Deutschland, Serbien und Russland in einem Experiment mit Katzen, deren Nervensystem Bewegungen ?hnlich verarbeitet wie das der Menschen. Die Versuche fanden 2019 am Pavlov Institute of Physiology in St.Petersburg statt und wurden in ?bereinstimmung mit den entsprechenden Richtlinien der Europ?ischen Union durchgeführt.
Die Forschenden implantierten Elektroden, von denen sie einige an den Nerv im Bein und andere an das Rückenmark anschlossen, um abzulesen, wie die Signale im Nervensystem übertragen werden. Als die Forschenden von unten her Druck auf die Katzenpfote ausübten und so die natürliche Nervenaktivit?t w?hrend eines Katzenschritts hervorriefen, glichen die im Rückenmark aufgezeichneten Aktivit?tsmuster tats?chlich den Mustern, die sich im Rückenmark zeigten, nachdem die Forschenden den Nerv im Bein mit biomimetischen Signalen stimuliert hatten.
Im Gegensatz dazu rief die herk?mmliche starre Stimulation des Ischiasnervs im Oberschenkel der Katzen ein deutlich anderes Muster im Rückenmark hervor. ?Die üblicherweise verwendeten Stimulationsmethoden führen offenbar dazu, dass die neuronalen Netze in der Wirbels?ule mit Informationen überflutet werden?, sagt Valle. ?Diese ?berlastung k?nnte der Grund sein für die unangenehmen Empfindungen oder Par?sthesien, von denen einige Betroffene berichten, wenn sie Neuroprothesen tragen?, fügt Raspopovic hinzu.
Die Sprache des Nervensystems erlernen
Dass die biomimetische der starren Stimulation überlegen ist, wiesen die Forschenden schliesslich in der klinischen Studie mit Beinamputierten nach. Die der Natur nachempfundenen Signale führten zu eindeutig besseren Resultaten: Die Probanden konnten dadurch rascher Treppen steigen. Zudem machten sie weniger Fehler, wenn sie beim Treppensteigen versuchten, W?rter rückw?rts zu buchstabieren. ?Dank der biomimetischen Neurostimulation k?nnen sich die Probanden beim Gehen auch auf andere Dinge konzentrieren. Das zeigt uns, dass diese Art der Stimulation natürlicher verarbeitet wird und das Gehirn weniger belastet?, sagt Raspopovic.
Der ETH-Professor am Institut für Robotik und Intelligente Systeme meint, dass die neuen Erkenntnisse nicht nur für die Beinprothesen von Bedeutung sind, mit denen er und sein Team sich schon seit über fünf Jahren besch?ftigen. Auch für eine Reihe von anderen Instrumenten und Apparaten – wie etwa Wirbels?ulenimplantaten oder Elektroden für die Hirnstimulation – sei es wichtig, von der bisher verwendeten unnatürlichen sich starr wiederholenden Stimulation abzukommen und dafür biomimetische Signale zu verwenden. ?Wir müssen die Sprache des Nervensystems erlernen?, sagt Raspopovic. ?Dann k?nnen wir so mit dem Gehirn kommunizieren, dass es uns gut versteht.?
Literaturhinweis
Valle G, Katic Secerovic N, Eggemann D, Gorskii O, Pavlova N, Petrini FM, Cvancara P, Stieglitz T, Musienko P, Bumbasirevic M, Raspopovic S: Biomimetic computer-to-brain communication enhancing naturalistic touch sensations via peripheral nerve stimulation. Nature Communications, 20. Februar 2024. doi: externe Seite 10.1038/s41467-024-45190-6