Übertragungswege von Infektionen in Spitälern auffinden und unterbrechen
Spit?ler wurden in der Covid-Pandemie selbst zu Infektionsherden. Forschende der ETH Zürich, der EPFL und der ISI Foundation haben deshalb ein Tracking-System für Gesundheitseinrichtungen entwickelt, das die Risiken von Infektionen identifizieren kann. Erste Tests in der Schweiz und in Afrika zeigen dessen Potenzial.
In Kürze
- In Zusammenarbeit mit einem ETH-Spin-off entwickeln die Forschenden ein tragbares Ultrabreitband-Tracking-System, um in Spit?lern die Nahkontakte in Infektionsnetzwerken genauer nachzuverfolgen.
- Das Forschungsteam testete ein Ger?t, das die Kontaktabst?nde zwischen Krankenhausmitarbeitenden erfasst, in der Schweiz, in Kenia und an der Elfenbeinküste.
- Die Ergebnisse helfen bei der Untersuchung potenzieller Gefahrenherde und der Auswirkung verschiedener Maskentypen auf die Infektionsausbreitung sowie bei der Anpassung von Technologien und Verfahren an kulturelle Unterschiede.
Im Krankenhaus erworbene Infektionen sind ein grosses Problem. ?W?hrend der Covid-Pandemie traten oft Ansteckungen in Spit?lern auf. Das gef?hrdete nicht nur geschw?chte Patient:innen, sondern viele Einrichtungen bekamen auch grosse Personalprobleme, weil zahlreiche Mitarbeitende gleichzeitig erkrankten?, sagt Onicio Batista Leal Neto.
Leal Neto war bis vor kurzem Senior Researcher in der Systems Security Group des Informatikdepartements der ETH Zürich und hat nun als Assistant Research externe Seite Professor für Digitale Epidemiologie an der University of Arizona angefangen. Er und andere Forschende wollten herausfinden, wie sich Infektionsausbrüche besser erkennen lassen, und wie sich ihre Ausbreitung unterbinden l?sst. Um die Infektionsketten gezielt unterbrechen zu k?nnen, ist es notwendig, die Interaktionen zwischen den Menschen zu kennen. Das soziale Netzwerk einer Person zeigt dabei die m?glichen Verbreitungswege einer Infektion auf.
Messgenauigkeit verbessert die Vorsorge
Im Rahmen des Projekts ?Wearable Proximity Platform? haben Informatiker und Epidemiologen der ETH Zürich, der EPFL, der ISI Foundation und des ETH-Spinoffs 3db Access ein Proximity-Tracking-System entwickelt, also ein ?Abstandsmesssystem?, das die Entfernung und N?he zwischen Personen messen kann, um das Infektionsrisiko namentlich in einer Krankenhausumgebung abzusch?tzen. Das technologische Herzstück des Systems bilden dabei spezielle Badges. Diese funktionieren, indem sie die UWB-Funktechnologie (Ultrabreitband) von 3db Access mit der integrierten Software und der Erfahrung der SocioPatterns-Kooperation kombinieren, die von der ISI-Stiftung geleitet wird. ISI ist ein interdisziplin?res europ?isches Forschungszentrum in der N?he von Turin. In den letzten zehn Jahren hat diese Kooperation die Nahbereiche menschlicher Netzwerke untersucht, und zwar in zahlreichen Kontexten, die für die Verbreitung von Infektionskrankheiten bedeutend sind, darunter Schulen, Krankenh?user, Versammlungsorte und ressourcenarme l?ndliche Gebiete auf der ganzen Welt.
?Um Infektionsnetzwerke zu erfassen, k?nnte eine genauere Entfernungsmessung den entscheidenden Unterschied ausmachen. Wenn nicht für COVID, so doch zumindest für viele andere Krankheiten?, erkl?rt Leal Neto. So wurde w?hrend der COVID-19-Pandemie beispielsweise festgestellt, dass eine Infektion mit dem Corona-Virus mit hoher Wahrscheinlichkeit weitergegeben wird, wenn eine Begegnung mindestens 15 Minuten dauert und in einer Entfernung von weniger als 150 Zentimetern stattfindet. Vergleichbar der SwissCovid-App w?hrend der Pandemie hat das neue System daher das Potenzial, Infektionsketten auf der Grundlage von Kontaktdauer und -distanz besser zu erkennen.
Kulturelle Faktoren sind entscheidend
Das Forschungsteam hat seinen L?sungsansatz in verschiedenen Umgebungen getestet, etwa in einem Schweizer Kantonsspital, in Gesundheitseinrichtungen in Afrika sowie in zwei D?rfern in Kenia und der Elfenbeinküste.
Die Technologie und ihre M?glichkeiten sind jedoch nur ein Aspekt des Systems, der Kontext ist ein anderer. ?Das kulturelle Umfeld zu verstehen, ist für den Erfolg einer derartigen Anwendung genauso wichtig?, weiss Leal Neto aus der Erfahrung zahlreicher Projekte in Zusammenarbeit mit der SocioPatterns-Gruppe, unter anderem in Brasilien und Malawi. Die Daten, die das System liefert, müssen je nach den Begleitumst?nden unterschiedlich interpretiert werden. Eine ?berlegung ist, wie die Sensoren genau getragen werden. Kleidungsstücke aus dickem Stoff beispielsweise k?nnen die Signalqualit?t beeintr?chtigen. Vor diesem Hintergrund haben Leal Neto und das Forschungsteam das System bereits in einem frühen Stadium auf Herz und Nieren geprüft, mit ersten Praxistests in der Schweiz, Kenia und der Elfenbeinküste.
Risikosituationen erkennen
In der Schweiz wurden für einen Arbeitstag fast alle knapp 40 Mitarbeitenden des Ambulatoriums der Klinik für Infektiologie des Kantonsspitals St. Gallen – vom Pflegepersonal über die ?rzte-Teams bis hin zur Administration – mit den Badges ausgestattet. Zus?tzlich wurden vier fest installierte Sensoren bei der Kaffeemaschine, im Aufenthaltsraum und an den Handhygienespendern in zwei Patientenzimmern angebracht. ?Das System steckt zwar noch in den Kinderschuhen, bereits die ersten Resultate sind aber sehr aufschlussreich. Derartige Anwendungen haben im Spital ein grosses Potenzial?, sagt Philipp Kohler. Er betreut die Studie als leitender Arzt auf Seiten des Kantonsspitals.
In Spit?lern erm?glichen derartige Systeme vor allem eine viel wirkungsvollere Pr?vention. ?Wenn wir wissen, wo und unter welchen Umst?nden risikobehaftete Kontakte stattfinden, k?nnen wir beispielsweise in bestimmten Situationen eine Maskenpflicht einführen?, erkl?rt Kohler. Zudem k?nnten auch Fragen wie die Auswirkungen verschiedener Maskentypen oder von H?ndedesinfektions-Routinen auf die Infektionsrate untersucht werden.
Für Dorfgemeinschaften herausfordernd
In Kenia und der Elfenbeinküste arbeitete das Forschungsteam mit zwei lokalen Partnerorganisationen zusammen, um Tests in l?ndlichen Gebieten durchzuführen. Dabei handelte es sich um das Centre Suisse de Recherches Scientifiques (CSRS) an der Elfenbeinküste und das Center for Public Development (CPDH) in Kenia. Für Onicio war diese Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen ein wichtiger Schritt: ?Damit die Menschen mitmachen, muss ein Projekt das lokale soziale Gefüge und die sozialen Normen der Gemeinschaften einbeziehen.? Insgesamt nahmen 340 Mitarbeitende von Gesundheitseinrichtungen sowie Dorfbewohner:innen teil.
Die Ergebnisse zeigen, dass das System bei den Mitarbeitenden der Spit?ler in Kenia und in der Elfenbeinküste gut funktioniert. Für die Dorfgemeinschaften erwies sich das System jedoch als weniger geeignet. Sie benutzten die Ger?te nicht durchgehend. Für Leal Neto zeigen die Tests, dass bei der Einführung von technischen Systemen immer der gesamte kulturelle Kontext zu beachten ist. Er ist überzeugt, dass dies auch ein Thema für die Ausbildung an den Hochschulen ist: ?Um erfolgreiche Systeme entwickeln zu k?nnen, müssen die Studierenden die kulturellen Faktoren, die eine Anwendung beeinflussen, genauso verstehen wie die technischen Zusammenh?nge.?
Genau darin liegt für ihn selbst die gr?sste Motivation: ?Ich m?chte mit meiner Arbeit mithelfen, dass auch unterversorgte Gemeinschaften von modernen Technologien profitieren k?nnen.?
Energiesparend verwendbar
Was die Anwendung dieser Technologie betrifft, sieht das Forschungsteam für die Zukunft vor allem zwei Verbesserungsm?glichkeiten. Erstens verwenden die Sensoren Bluetooth Low Energy für die gegenseitige Identifizierung. Dadurch k?nnen sie ihren Energieverbrauch weiter senken, wie dies bei anderen bestehenden Plattformen der Fall ist. Das energieintensivere UWB muss dann nur noch den genauen Abstand zwischen den Sensoren ermitteln. Zweitens wollen sie die besonders energieeffiziente LoRa-Technologie (engl. ?long range?), die für das Internet der Dinge (IoT) entwickelt wurde, zur Datenübertragung nutzen.
Forschungszusammenarbeit für das Allgemeinwohl
Dieses Projekt ist Teil der übergreifenden Initiative ?EPFL COVID-19 Real-Time Epidemiology?. Diese Initiative wird von der EPFL geleitet. An ihr beteiligen sich auch das Departement Informatik der ETH Zürich, 3db Access, die TU Delft, das University College London (UCL) und die ISI Foundation. Sie zielt darauf ab, ein sicheres, quelloffenes (engl. ?open-source?) und die Privatsph?re besser schützendes Toolset zu entwickeln, das auf Epidemiolog:innen und Fachpersonen des ?ffentlichen Gesundheitswesens zugeschnitten ist. Das Projekt wird von der Fondation Botnar finanziert.
Das Departement Informatik der ETH Zürich war massgeblich an der Entwicklung der Architektur der Ultrabreitband-Technologie beteiligt. ?Unsere Forschung im Bereich der UWB-Technologie hat sich bisher haupts?chlich auf Sicherheitsanwendungen konzentriert. Ich freue mich, dass unsere Ergebnisse nun auch im Rahmen der Epidemievorsorge eingesetzt werden?, sagt Srdjan ?apkun, Professor für Informatik an der ETH Zürich.
Die ISI Foundation ihrerseits entwickelte die On-Board-Sensorsoftware sowie die Datenanalyse- und Visualisierungspipeline. Sie nutzte dabei mit teilweiser Unterstützung der CRT-Stiftung ihre Erfahrung aus der Leitung der SocioPatterns-Kollaboration, einer internationalen Initiative, die in den letzten 15 Jahren einige sehr umfangreichen Untersuchungen menschlicher Kontaktnetzwerke mit N?herungssensoren durchgeführt und dazu offene Datens?tze ver?ffentlicht hat, die in mehr als 2000 wissenschaftlichen Artikeln verwendet worden sind. ?Wir sind davon überzeugt, dass diese Technologie eine vielversprechende technische Weiterentwicklung gegenüber den bisherigen N?herungssensoren darstellt und qualitativ hochwertigere Messungen von Kontaktmustern in verschiedenen, interessanten Umgebungen erm?glicht?, sagt Ciro Cattuto, wissenschaftlicher Direktor der ISI-Stiftung.
Neben der Leitung des multi-institutionellen Konsortiums hat die EPFL den Strategieplan für das WPP-Ger?t entwickelt, der ihren Einfluss auf technologischem und ethischem Gebiet unterstreicht. Die EPFL hat auch wichtige Erkenntnisse über die Bewertung von Mensch-Maschine-Schnittstellen beigesteuert sowie Pl?ne für die künftige Integration des offenen dp3t -Protokolls (engl. ?Decentralised Privacy-Preserving Proximity Tracing?) entworfen, das w?hrend der COVID-19-Pandemie entwickelt wurde, um die digitale Kontaktnachverfolgung von infizierten Personen zu erm?glichen. ?Als wir w?hrend der Pandemie an den Contact Tracing-Apps arbeiteten, mussten wir unsere Designs oft auf die von Google und Apple vorgegebenen Grenzen beschr?nken. Mit einer unabh?ngigen Plattform wie der WPP k?nnen wir bei der Pandemiepr?vention unterstützen, ohne dass Technologiegiganten intervenieren?, sagt Carmela Troncoso, Professorin und Leiterin des SPRING Labs an der EPFL.