Fasern machen chaotische Turbulenzen berechenbarer
Das chaotische Verhalten von Wirbeln macht unter anderem die Wetterprognosen so schwierig. Forschende der ETH Zürich haben jetzt eine neuartige experimentelle Methode entwickelt, die genauere Analysen der Bewegungen von Turbulenzen in Flüssigkeiten erm?glicht.
Turbulenzen geh?ren zu den wichtigsten und gleichzeitig zu den am wenigsten verstandenen Ph?nomenen der Natur. Vom Wetter über die Str?mungsverh?ltnisse in Gew?ssern und in industriellen Chemie- oder Biologiereaktoren bis hin zum Blutkreislauf: ?berall, wo sich Flüssigkeiten und Gase bewegen, bestimmen Hierarchien von Wirbeln, wie sich die Energie ausbreitet und lokal auswirkt. Die Grenzen der heutigen Vorhersagemodelle werden zu einem grossen Teil durch das begrenzte Verst?ndnis der Turbulenzen und ihrer Zusammenh?nge gesetzt.
Forschende der ETH Zürich haben jetzt mit Partnern anderer Forschungsinstitutionen ein neuartiges experimentelles Verfahren entwickelt, um die Energien von Wirbeln in Flüssigkeiten über die ganze Skalenbreite von wenigen Millimetern bis zu hunderten von Metern viel genauer und vor allem auch einfacher zu erfassen. Die Methode macht den Weg frei für wesentlich bessere Vorhersagen und hat das Potenzial mitzuhelfen, unser Verst?ndnis der chaotischen Bewegungen auf eine n?chste Stufe zu heben.
Kleine ?nderung, grosse Wirkung
Markus Holzner und Stefano Brizzolara von der Gruppe für Umweltstr?mungsmechanik - einer gemeinsamen, interdisziplin?ren Forschungseinheit der Eidgen?ssischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL und des Wasserforschungsinstituts Eawag des ETH-Bereichs - haben dafür das Problem der Turbulenzen-Messung mit einem vollst?ndig neuen Ansatz angegangen. W?hrend die bisherigen Verfahren die Bewegungen von kugelf?rmigen Markierungsteilchen verfolgen, erfassen sie die Bewegungen der Enden von starren Fasern, die in der Flüssigkeit schweben. Was als kleine ?nderung des experimentellen Setups erscheint, hat enorme Auswirkungen auf den Messaufwand und auf die Genauigkeit.
Faser-Enden liefern statistisch notwendige Daten
Der grosse Unterschied: Die Rotationen der Enden einer einzelnen Faser liefern die gesamten statistischen Daten, die für die Charakterisierung einer Wirbelbewegung und von deren Energie notwendig sind. Bisher mussten die Forschenden dafür jeweils viele und vor allem auch laufend noch mehr Markierungsteilchen einsetzen. Schwebende Kugeln verteilen sich n?mlich automatisch in einer Flüssigkeit und ihr mittlerer Abstand vergr?ssert sich infolge der turbulenten Diffusion schnell.
In Laborsettings, in denen die Forschenden die Teilchenbewegung in transparenten und mit Wasser gefüllten Messk?sten dreidimensional erfassen, bringt eine immer gr?sser werdende Zahl der Messteilchen aber die Kameraerfassung an ihre prinzipiellen Grenzen. Bei über 10'000 Teilchen verdecken sich diese zu oft gegenseitig. Die Aufl?sung der Messungen l?sst sich darum nicht mehr steigern.
Bei der Analyse von Str?mungen und Wirbeln in der offenen See bedeutet eine grosse Anzahl und das dauernde Ersetzen von Tracer-Bojen, wie dies auf Grund des laufenden Wegdriftens der Bojen mit der herk?mmlichen Methode n?tig ist, nicht nur hohe Materialkosten. Auch der Zeitaufwand w?chst entsprechend, wie Holzner erkl?rt. Werden die Bojen aber über Kabel quasi zu riesigen Fasern verbunden, k?nnen sie nicht mehr voneinander weg driften.
Starre Faser rotiert gleich wie die Flüssigkeit
Um die Praxisrelevanz des Prinzips zu belegen, haben die ETH-Forschenden ihr System intensiv experimentell ausgetestet. Dafür verwendeten sie ein 3D-Partikel-Geschwindigkeitsmesssystem, wie es auch für die Analysen mit kugelf?rmigen Teilchen verwendet wird. So konnten sie unter anderem zeigen, dass starre Fasern genauso gute Resultate liefern wie flexible.
Der Berechnungsaufwand ist bei einer festen Geometrie allerdings wesentlich kleiner. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass die feste Faser immer in der Geschwindigkeit des Wirbels rotiert, denn die Viskosit?t verhindert, dass die Flüssigkeit über eine feste Faser hinweggleiten kann. Demgegenüber rotieren flexible Fasern nicht nur mit der Strudelbewegung der Flüssigkeit, sondern sie verbiegen sich auch noch und schwingen mit einer ?hnlich grossen Frequenz.
Von Gezeiten bis zu Herzklappen
Ein grosser Vorteil der Faser-Messmethode liegt, laut Holzner, in ihrer ausserordentlichen ?bertragbarkeit auf alle für Wirbelph?nomene relevanten Gr?ssenverh?ltnisse von wenigen Millimetern bis zu mehreren hundert Metern. Um beispielsweise Strudel im Meer zu analysieren, kann die Faser aus zwei GPS-bestückten Bojen gestaltet werden, welche die Enden markieren und die über ein rund hundert Meter langes Kabel verbunden sind. Aus den Messungen der Bojenbewegungen lassen sich dann beispielsweise Vorhersagen über die Ausbreitung von Verschmutzungen mit ?l oder Plastikabf?llen berechnen.
Am anderen Ende der Skala steht das Verst?ndnis von Wirbelbildungen bei Herzklappen, die eine Ursache für gesundheitliche Probleme sein k?nnen. Hier kann beispielsweise in Silikonmodellen mit Fasern im Millimeterbereich experimentiert werden.
Die Türen zu neuen Erkenntnissen
Bei ersten Pr?sentationen der Forschungsarbeiten auf wissenschaftlichen Kongressen hat Brizzolara festgestellt, dass die Faser-Methode auch andere Forschende inspiriert. Jemand will das System an ein physikalisches Grossmodell für Gezeitensimulationen anpassen und andere planen Versuche mit spezifischen Anordnungen von mehreren Fasern.
?Neue experimentelle Methoden ?ffnen in der Wissenschaft immer auch Türen zu neuen Erkenntnissen?, wie der Forscher aus Erfahrung weiss. Die ETH-Messmethode für Turbulenzen hat das Potenzial, die prinzipiell chaotischen Str?mungs-Systeme ein gutes Stück berechenbarer zu machen und dadurch unter anderem auch bessere Vorhersagemodelle zu erm?glichen.
Literaturhinweis
Brizzolara S, Rosti ME, Olivieri S, Brandt L, Holzner M, Mazzino A. Fiber Tracking Velocimetry for Two-Point Statistics of Turbulence. Physical Review X Vol. 11, Issue 4, 17. September 2021. doi: externe Seite 10.1103/PhysRevX.11.031060
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Weitere Informationen
externe Seite Webseite Holzner Lab / Environmental Fluid Mechanics – EFM