Fast alle Chemikalien belasten den Planeten
Wie stark die derzeitige Chemikalienproduktion weltweit in die Natur eingreift, haben Forscher der ETH Zürich erstmals in absoluten Zahlen berechnet – das Ergebnis ist erschütternd. Neben CO2-Emissionen berücksichtigt die neue Methode auch die Landnutzung und den Süsswasserverbrauch.
?ber 99 Prozent der meistproduzierten Chemikalien sind nicht nachhaltig; ihre Herstellung basiert auf fossilen Rohstoffen und verbraucht mehr natürliche Ressourcen, als sie die Erde langfristig zur Verfügung stellen kann. So lautet das Fazit eines an der ETH Zürich entwickelten Nachhaltigkeitstests, der erstmals absolute Zahlen zur globalen Umweltbelastung durch die chemische Industrie liefert.
?Unsere Methode vergleicht den Ressourcenverbrauch von Chemikalien mit dem ?kologischen Budget unseres Planeten – das ist ein neuer Ansatz?, sagt Gonzalo Guillén Gosálbez, Professor für chemische Verfahrenstechnik an der ETH Zürich. Er leitete die kürzlich im Fachjournal externe Seite Green Chemistry ver?ffentlichte Studie gemeinsam mit Javier Pérez-Ramírez, Professor für Katalyse-Engineering an der ETH.
Die heute in der Chemiebranche übliche Praxis zur Nachhaltigkeitsprüfung ist, den CO2-Fussabdruck eines bestimmten Produktes zu berechnen – vom Rohstoff über die Produktion, bis hin zur Entsorgung. Diese sogenannte Lebenszyklusanalyse erlaubt zwar einen Vergleich zwischen verschiedenen Produktionsarten. Sie eignet sich jedoch nur bedingt, um die Auswirkungen auf natürliche ?kosysteme abzusch?tzen.
?Wenn wir uns nur auf L?sungen konzentrieren, die den CO2-Ausstoss senken, verlagern wir die Probleme wom?glich in einen anderen Bereich und verschlimmbessern die Umweltsituation sogar.?Javier Pérez-Ramírez, Professor für Katalyse-Engineering
Dass solche Lebenszyklusanalysen und auch andere ?kobilanzen oft nur die CO2-Emissionen berücksichtigen, st?rt Pérez-Ramírez. ?Der Klimawandel ist nicht das einzige Problem?, sagt er. ?Wenn wir uns nur auf L?sungen konzentrieren, die den CO2-Ausstoss senken, verlagern wir die Probleme wom?glich in einen anderen Bereich und verschlimmbessern die Umweltsituation sogar.?
?Grüne? Treibstoffe sind nicht immer nachhaltig
Wie solche ?kologische Kollateralsch?den entstehen k?nnen, erkl?rt Pérez-Ramírez am Beispiel der Biotreibstoffe: Wenn fossile Energietr?ger durch pflanzliche Rohstoffe wie Mais oder Holz (sogenannte Biotreibstoffe der ersten Generation) ersetzt werden, gelangt deutlich weniger neues CO2 in die Atmosph?re. Um die dazu notwendige Biomasse zu produzieren, braucht man allerdings grosse Anbaufl?chen, viel Wasser und auch Dünger.
Das erkl?rte Ziel der beiden Forscher war es daher, eine umfassendere ?kobilanz für Chemikalien zu erstellen- und dabei einen direkten Bezug zum Ressourcenbudget der Erde herzustellen. Ihre Berechnungen stützen sie auf die sogenannten planetaren Belastungsgrenzen. Das wissenschaftliche Konzept beschreibt den Einfluss des Menschen auf die sieben wichtigsten Umweltph?nomene wie den Biodiversit?tsverlust und die ver?nderte Landnutzung.
Für jede dieser planetaren Belastungsgrenzen hat die Wissenschaftsgemeinde bereits Grenzwerte definiert, deren ?berschreiten unumkehrbare und die Erde bedrohende Umweltver?nderungen haben k?nnte. Die ver?nderte Landnutzung wird beispielsweise am globalen Verlust der Waldfl?che gemessen.
In der aktuellen Studie haben die Wissenschaftler berechnet, ob und wie stark die weltweite Produktion von insgesamt 492 Chemikalien, die Grenzwerte von sieben planetaren Belastungsgrenzen überschreiten. Die ETH-Forschenden verknüpften dazu bestehende Daten und Bilanzierungsmodelle zu Rohstoffbeschaffung, Lieferkette und den verschiedenen Produktionsschritten auf globaler Ebene.
Das Resultat: ?ber 99 Prozent der untersuchten Chemikalien sprengen mindestens eine planetare Belastungsgrenze. Nur gerade drei der Chemikalien stuft die neue Methode als ?kologisch nachhaltig ein.
Erd?l ist die Grundzutat vieler Chemikalien
?Dass fast alle untersuchten Chemikalien umweltsch?dlich sind, hat uns kaum überrascht?, sagt Pérez-Ramírez. Denn: Heute wird das Kohlenstoff-Grundgerüst, aus dem die meisten Chemikalien bestehen, noch immer zu über 85 Prozent aus fossilen Rohstoffen gewonnen.
?Wenn schon die Basischemikalien aus Erd?l bestehen, sind auch alle daraus entstehenden Produkte nicht nachhaltig?, sagt Pérez-Ramírez. Die auf den menschliche Treibhausgas-Ausstoss zurückführenden Belastungsgrenzen – Klimawandel, Ozeanversauerung und Unversehrtheit der Biosph?re – haben denn auch mit Abstand am meisten Chemikalien überschritten.
Die Forscher waren aber überrascht, dass einige Chemikalien die Belastungsgrenzen der Erde um mehr als das 100-fache überschreiten.
Hin zu nachhaltigeren Produktionsverfahren
Dass die Chemieindustrie vom Einsatz fossiler Rohstoffe wegkommen muss, ist l?ngst bekannt. Nun hat die Studie das Problem jedoch erstmals auf globaler Ebene quantifiziert. ?Die Botschaft ist klar: Wir k?nnen und müssen jetzt handeln?, so Guillén Gosálbez.
In Beratungsgespr?chen mit dem ETH-Professor zeigen sich praktisch alle Chemieunternehmen willens, ihre Produktion umweltfreundlicher gestalten – auch aus wirtschaftlichen Gründen: ?Nachhaltigkeit hat sich zum globalen Trend entwickelt. Immer mehr Kundinnen und Kunden achten darauf?, sagt Guillén Gosálbez.
Die grundlegende Umstellung von Produktionsverfahren ist letztlich vor allem eines: eine Kostenfrage. ?Für Unternehmen ist es zentral, im Voraus zu wissen, wie stark die ?nderung eines bestimmten Produktionsschrittes die Nachhaltigkeit ihres Produktes steigert?, erkl?rt Guillén Gosálbez. Bis heute existieren in der Industrie kaum Anwendungen, die eine solche Nachhaltigkeitsbewertung erm?glichen.
Die Forschenden m?chten ihre Methode deshalb dahingehend weiterentwickeln, dass sich damit nicht nur bestehende Produktionsverfahren überprüfen lassen, sondern auch das Potential neuer L?sungsans?tze ermittelt werden kann. ?Im Idealfall finden wir so den optimalen, sprich ressourcenschonendsten Mix der verschiedenen Produktionsarten für eine Chemikalie?, so Pérez-Ramírez.
Literaturhinweis
Tulus V, Pérez-Ramírez J, Guillén Gosálbez G. Planetary metrics for the absolute environmental sustainability assessment of chemicals, Green Chemistry, 27. Oktober 2021, 23. DOI: externe Seite 10.1039/D1GC02623B