ETH – Quo vadis?
Wir sind alle stolz auf die ETH. Zu Recht. Nichtsdestotrotz hat sich in den letzten Jahren bei mir der Verdacht erh?rtet, dass an der ETH zunehmend Entscheide gef?llt werden, die aus einer Partikul?rsicht richtig sein m?gen, die aber den Blick aufs Ganze vermissen lassen und letztlich zu einer unguten Entwicklung beitragen. Ein Zwischenruf.
Die ETH soll eine weltweit führende technische Hochschule sein. Gut so! Aber wie definiert man ?weltweit führend?? Ist es wichtig, ob die ETH sich um einen oder zwei Pl?tze in einem jener weltweiten Rankings verbessert, die teilweise auf Kriterien beruhen, welche weit herum als eher zweifelhaft angesehen werden? Man kann diese Frage als unwesentlich für den Hochschulalltag abtun. Aber: wenn man die Rankings für wichtig h?lt, so ist es folgerichtig und sogar notwendig, die ETH-Angeh?rigen quantitativ und nach jenen Kriterien zu beurteilen, welche in die Rankings eingehen. Damit lassen wir uns die Qualit?ts-Kriterien von aussen diktieren, statt sie durch einen internen Diskurs festzulegen.
Die Indikatoritis
Für Rankings braucht es Zahlen. Bei den wissenschaftlichen Rankings grassiert eine Krankheit immer st?rker, die Indikatoritis, und sie bezieht sich vor allem auf Publikationen.
Erstens haben wir uns einem Monopolisten, dem Institute for Scientific Information (ISI; heute im Besitz von Thomson Reuters, also einer privaten, gewinnorientierten Firma) ans Messer geliefert – was vom ISI an Journals indexiert wird, wird weit herum als potentiell gut erachtet; was nicht indexiert wird, ist a priori schlecht. Ist es angemessen, dass eine einzige private Firma über den Wert wissenschaftlicher Ergebnisse entscheidet? Zudem werden dadurch Publikationen, die in praxisnahen Journals (die durchaus ?peer-reviewed? sein k?nnen) erscheinen, wertlos für die Leistungsbilanz von ETH-Forschenden, und dies behindert den Dialog zwischen ETH-Forschung und Praxis. Wollen wir das wirklich?
Zweitens braucht es Kriterien, um zu beurteilen, welche Artikel in ISI-Journals nicht nur potentiell, sondern tats?chlich gut sind. Dies wird weit herum anhand des ?Impact Factor? (IF) der Journals gemacht, n?mlich der Anzahl Zitierungen, die Artikel in einem bestimmten Journal durchschnittlich erhalten. Nun ist ein Mittelwert bekanntlich ungeeignet, um schiefe Verteilungen zu charakterisieren. Die Zitierungs-H?ufigkeiten in wissenschaftlichen Zeitschriften sind aber extrem schief verteilt – beispielsweise erreichen 80% der Papers, die im hoch angesehenen Journal Nature publiziert werden, 8 Jahre nach ihrer Publikation weniger als 15 Zitierungen (Basisjahr 2005, Analyse 2006-2013), d.h. man k?nnte sie als eigentliche Flops bezeichnen. Diese Aussage basiert auf der Annahme, dass die Zitierungsh?ufigkeit ein Indikator für die Qualit?t einer Publikation ist. Diese Annahme ist zwar ebenfalls fragwürdig, aber ich lasse sie jetzt einmal gelten.
Die Tatsache, dass jemand kürzlich etwas in ?Nature? publiziert hat, ist also kein brauchbarer Pr?diktor für die Qualit?t dieser Arbeit. Trotzdem werden immer wieder Wissenschaftler pauschal abqualifiziert mit der Bemerkung, dass der IF jener Journals, in welchen sie publizieren, tief sei.
Zu wenig Zeit, um seri?s zu arbeiten?
Woher kommt solche Fahrl?ssigkeit? ETH-Professoren betreuen in den meisten F?llen weit mehr als 10 Doktorierende, sie sind bemüht, selber Forschung zu betreiben, machen Lehre und managen in einer Professur ?so nebenbei? ein KMU mit einem Jahresumsatz von weit über einer Million Franken und oft 20-30 Angestellten – da ist Zeit das knappste Gut im Arbeitsalltag. In dieser Situation helfen Indikatoren, sich schnell ein Bild zu machen, und sparen viel Zeit – theoretisch. Jeder Indikator ist aber ein Modell, d.h. ein vereinfachtes und damit per definitionem falsches Abbild der Realit?t. Wenn wir die Qualit?t einzelner Wissenschaftler beurteilen wollen, so hilft nur eines: sich mit der Materie besch?ftigen, die Unterlagen sorgf?ltig studieren, einige Publikationen der zur Diskussion stehenden Person selber lesen und sich so eine eigene Meinung bilden. Das braucht Zeit. Wenn wir uns diese Zeit nicht mehr nehmen zu k?nnen glauben und statt dessen der Indikatoritis fr?nen, so wird die Qualit?t von Lehre und Forschung de facto abnehmen, obwohl wir uns das Gegenteil vormachen.
Bei ETH-Berufungen gilt das Prinzip ?Excellence before profile?. Gut so! Die zentrale Frage aber ist, wie ?Excellence? definiert wird. Weil wir zu wenig Zeit zu haben glauben, stützen wir uns zunehmend auf Indikatoren, und Indikatoren sind am einfachsten verfügbar bezüglich Publikationen – da hat das ISI eine sehr gute Marktlücke entdeckt und ausgefüllt. Qualit?t und Umfang der Lehre, Pers?nlichkeitsmerkmale wie z.B. Teamf?higkeit, interdisziplin?re Interaktionen oder der Umgang mit ausseruniversit?ren Partnern w?ren Beispiele für andere, meines Erachtens ebenso wichtige Kriterien – bloss gehen sie mit untergeordneter Bedeutung oder überhaupt nicht in die Beurteilung der ?Excellence? von Kolleginnen und Kollegen ein, wenn die Indikatoritis grassiert.
Das Missverst?ndnis von Bologna
Ich habe soeben die Qualit?t der Lehre gestreift. Professoren sind Hochschullehrer genau so wie Forscher. Wir sollten also ein gemeinsames Verst?ndnis haben, was resp. wofür wir ausbilden an der ETH. In den systemorientierten Wissenschaften der ETH gehen seit Jahrzehnten ungef?hr 80% der Absolventen in die Praxis und werden dort mit Begeisterung aufgenommen; bloss etwa 20% machen eine Dissertation. Gut so! Damit bedienen wir den Arbeitsmarkt mit hervorragend ausgebildeten Fachkr?ften, und ein (kleinerer) Teil der Absolventen macht Karriere in der Wissenschaft.
Mit der Bologna-Reform haben wir die Bezeichnung ?Master? aus dem angels?chsischen Raum übernommen. Dort verlassen die meisten Studierenden die Universit?t mit dem Bachelor-Abschluss; einen Master-Abschluss machen nur wenige, n?mlich vor allem jene, die zwar ein Doktorat anstreben, dann aber merken, dass sie das falsche Thema gew?hlt haben oder es – aus welchen Gründen auch immer – nicht schaffen. Deshalb die gemeinsame Bezeichnung ?Graduate Students? für MSc- und PhD-Studierende. Mit der ?bernahme der angels?chsischen Bezeichnungen im v?llig anders strukturierten Bildungssystem der Schweiz ist bei etlichen Professoren, die sich an das angels?chsische System gew?hnt sind, das Missverst?ndnis entstanden, dass wir auf der Master-Stufe prim?r zukünftige Doktorierende ausbilden, die bereits Papers in ISI-Journals mit einem hohen IF produzieren sollten... verbunden mit entsprechenden Tendenzen in den Studienpl?nen und grosser Entt?uschung über das, was in einer ETH-Masterarbeit (von typischerweise 6 Monaten Dauer) erreichbar ist. Wir sind also auch in der Ausbildung im Begriff, der Indikatoritis zu erliegen.
Es ist richtig, dass oft nichts so praktisch ist wie eine gute Theorie (resp. eine gute theoretische Ausbildung). Aber: wenn beispielsweise jene Umweltnaturwissenschafts-Absolventen, die Jobs im Bereich der Landnutzung anstreben, so exzellent werden sollten, dass sie zwar r?umliche Statistik virtuos beherrschen, aber keine Ahnung haben, welche ?kosysteme in der Schweiz wo im Raum vorkommen und weshalb sie dort vorzufinden sind, dann dürfte das ihre Arbeitsf?higkeit und Akzeptanz im schweizerischen Arbeitsmarkt massiv reduzieren. Ob die Schweiz es sich leisten kann und soll, die ETH-Absolventen auf den internationalen Doktorierenden-Markt, auf ISI und IF auszurichten statt auf die Bedürfnisse unseres Landes, ist eine politische Frage, die ich klar verneinen würde: wir haben – anders als z.B. in den USA – schlicht zu wenige Universit?ten, als dass wir uns das leisten k?nnten.
Wie weiter?
Als einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind wir den oben beschriebenen Fehlentwicklungen des akademischen Systems ziemlich hilflos ausgeliefert. Die ETH hat einen hervorragenden Ruf weltweit, und wir sind alle stolz darauf. Ebenso wichtig ist aber, dass dieser Ruf es uns erm?glichen würde, uns als Institution von den Rankings und der fremdbestimmten Indikatoritis zu verabschieden und unsere eigenen Kriterien zu definieren, was exzellent ist und wohin wir wollen – nicht notwendigerweise weiter hinauf in den Rankings, sondern in eine sinnvolle Zukunft.
Auf die im Rahmen einer ?ffentlichen Veranstaltung gestellte Frage, ob die ETH-Studien?g?nge nach der Einführung der Bologna-Reform zertifiziert werden würden, antwortete der damalige Rektor Konrad Osterwalder mit Entrüstung, die ETH sei die ETH und brauche keine Zertifizierung. Gut so! Wir brauchen auch keine Rankings, sondern sehr gute Forschung, damit wir weiterhin trotz der Kleinheit unseres Landes in der internationalen Top-Liga dabei sind, und hochstehende, theoretisch fundierte, aber auch praxisorientierte Lehre, damit wir weiterhin hervorragende, praxistaugliche Absolventen ausbilden. Dieses Ziel ist nur erreichbar, wenn wir die Metrik des wissenschaftlichen Erfolgs differenzierter gestalten. Die ETH-Wert?skala w?re eine breite Diskussion wert.
Zur Person
Harald Bugmann weist einen für sein Fachgebiet und sein Alter hohen h-Index von derzeit 33 auf und hat in Journals mit einem hohen IF publiziert, z.B. Science, Ecology Letters, Ecological Monographs, Ecology, Journal of Ecology, etc. Er glaubt aber nicht, dass man anhand dieser Indikatoren beurteilen kann, ob er ein guter ETH-Professor ist. Er publiziert regelm?ssig Beitr?ge in der Schweizerischen Zeitschrift für Forstwesen und sogar im Bündner Wald, obwohl diese nicht vom ISI indexiert werden, weil er naiv genug ist zu glauben, dass die Umsetzung von Forschungsresultaten in der Praxis eine wichtige Sache sei und sich nicht von selber ergebe. Er hat noch nie auszurechnen versucht, wie viel h?her sein h-Index sein k?nnte, wenn er statt der seit 1999 für Bündner Wald etc. vergeudeten Zeit weitere Papers für ISI-Journals geschrieben h?tte.