Wege aus verfahrenen Situationen
Bei gravierenden Konflikten, Drohungen oder ?bergriffen am Arbeitsplatz scheint eine Vermittlung oft chancenlos. Ein neues Reglement zeigt auf, wie an der ETH auch schwierige Situationen gemeistert werden k?nnen.
Markus T.* weiss nicht mehr weiter. Im Rahmen seiner Doktorarbeit nutzt der junge Wissenschaftler ein Labor der ETH. Seit gut einem Jahr geht er dort fast t?glich ein und aus. An seiner Arbeit hat er Freude, er fühlt sich zun?chst gut integriert. Als Markus eine Unachtsamkeit begeht und dadurch ein Set von Proben unbrauchbar wird, muss die Forschungsgruppe einen gr?sseren Sondereffort leisten, um den Schaden zu beheben.
Einem Arbeitskollegen ist der Vorfall spürbar aufgestossen. Nach anf?nglicher Zurückhaltung l?sst er im Kollegenkreis kein gutes Haar an Markus und seiner Leistung. Auch ihm selbst gegenüber macht der Kollege immer h?ufiger abwertende Kommentare und gibt ihm zu verstehen, dass er seinem Auftrag nicht gewachsen sei und sich eine andere Besch?ftigung suchen sollte. Unterstützung von anderen Gruppenmitgliedern bleibt aus, immer mehr Kollegen wenden sich von Markus ab. Seine Gespr?che mit dem Teamleiter über die Situation verlaufen im Sand, er fühlt sich immer unwohler und zunehmend isoliert. Schliesslich konsultiert Markus die ETH-?Respekt?-Seite und vereinbart ein Gespr?ch mit der neu geschaffenen externen Ombudsstelle der ETH.
Frühzeitig Beratung anfordern
?Markus T. geht richtig vor?, meint Ernestine Hildbrand, Projektleiterin bei Human Resources. ?Wer spürt, dass im Arbeitsumfeld etwas nicht mehr stimmt, sollte das Problem bei einer geeigneten Stelle zur Sprache bringen. Vor allem, wenn man sich ungerecht behandelt, bel?stigt oder sogar bedroht fühlt.? Dabei sollte, falls m?glich, die oder der Vorgesetzte die erste Anlaufstelle sein, so ihre Empfehlung.
Das Angebot der Anlauf- und Kontaktstellen an der ETH ist im letzten Jahr gewachsen. Ein Ausl?ser dafür waren Vorf?lle in den vergangenen Jahren, bei denen es an Respekt gegenüber Mitarbeitenden mangelte und es zu Konflikten kam. So wurde die externe Ombudsstelle ins Leben gerufen sowie eine interne Beratungs- und Schlichtungsstelle Respekt, die spezifisch Beratung und Hilfe in F?llen von Mobbing, Bel?stigung und Diskriminierung anbietet. Auch diese Stelle wird durch eine externe, unabh?ngige Beratungsstelle erg?nzt.
?An der ETH Zürich erwarten wir in der Zusammenarbeit gegenseitigen Respekt und Wertsch?tzung?, betont Lukas Vonesch, Leiter Human Resources. ?Verst?sse gegen den Verhaltenskodex der ETH tolerieren wir nicht, und wir gehen gemeinsam mit Betroffenen dagegen vor.? Wie das konkret abl?uft, beschreibt nun das auf den 1. September 2020 in Kraft gesetzte Reglement betreffend Meldungen von Angeh?rigen der ETH Zürich über unangemessenes Verhalten.
Mitsprache aller Hochschulgruppen
Der Reglementstext ist breit abgestützt: Einbezogen waren die Ombudspersonen, die Hochschulversammlung (HV) und alle Hochschulgruppen wie etwa die Mittelbauvereinigung AVETH und der Studierendenverband VSETH. Werner Wegscheider, Professor für Festk?rperphysik und HV-Pr?sident, ist mit dem Erreichten zufrieden. ?Die Rollen der verschiedenen Anlauf- und Beratungsstellen sind nun klar definiert.? Dies gilt auch für die Ombudspersonen. Dazu wurden parallel zur Entwicklung des Reglements die entsprechenden Bestimmungen der ETH-Organisationsverordnung (OV) gesch?rft.
Die Arbeit an den Details war entscheidend: ?Für Betroffene ist es zum Beispiel wichtig, dass die Fachpersonen im Rahmen ihrer Abkl?rungen nur mit Einverst?ndnis der betroffenen Person deren Anonymit?t aufheben dürfen.? Hier habe es bisher Unsicherheiten gegeben. ?Ich bin froh, dass jetzt pr?zise formuliert ist, wie der Umgang mit der Anonymit?t gehandhabt wird, wie beide Seiten geschützt werden und wie für einen vertraulichen und fairen Ablauf gesorgt wird?, sagt Werner Wegscheider.
Klare Prozesse
Hauptmerkmal des Meldeprozesses ist dessen zweiteilige Struktur. In einer ersten, informellen Phase wird versucht, gemeinsam mit der betroffenen Person m?glichst rasch und einfach zu einer L?sung zu kommen. Wichtig in dieser Phase ist: Die meldende Person hat die n?chsten Schritte in der Hand, wirkt aktiv mit und ihr Anliegen wird vertraulich behandelt. Meistens geht es in dieser Phase um pers?nliche Beratung und Unterstützung. Nur wenn die Person es wünscht, k?nnen die Fachpersonen eine Vermittlung angehen.
Eine betroffene Person kann in einem n?chsten Schritt eine schriftliche Meldung bei der Meldestelle Konfliktmanagement einreichen und so die formelle Phase einleiten. In dieser Phase müssen beide Konfliktparteien angeh?rt werden, dazu erfolgt die Aufhebung der Anonymit?t. ?Die HV findet diese Zweiteilung des Prozesses sehr sinnvoll?, so Werner Wegscheider. ?Insbesondere auch, dass an der Schnittstelle zwischen den Phasen ein Konfliktmanagement eingeführt wurde. Die damit betraute Person versucht noch einmal, eine frühzeitige Einigung zu erreichen.?
Alle Wege führen zu Hilfe
Wie findet Markus T. nun heraus, welche Meldestelle sich für seine Situation am besten eignet? Mit anderen Worten: Beeinflusst es das Verfahren, wenn er statt der internen die externe Ombudsstelle oder die Fachstelle ?Respekt? ansteuert? ??berhaupt nicht?, betont Ernestine Hildbrand. ?Alle Anlaufstellen sind für einen Erstkontakt offen und kümmern sich intensiv um die individuellen Anliegen.? Je nach den Kompetenzen, die ein Fall verlangt, würden sie die Ratsuchenden allenfalls weiterleiten. ?Wichtig ist: Nutzen Sie frühzeitig eines der Angebote und lassen Sie sich beraten. Je früher, desto besser k?nnen Konfliktsituationen erkannt und entsch?rft werden?, unterstreicht die Personalexpertin.
Dem pflichtet HV-?Pr?sident Wegscheider bei: ?Dass die ETH heute vielf?ltige und niederschwellige Anlaufstellen anbietet, ist erfreulich und mit das Wichtigste bei diesem Thema.? Notwendig sei ausserdem, dass Betroffene, die sich melden, rechtzeitig Schutzmassnahmen erhalten. Darauf hat die HV in der Diskussion über das Reglement deutlich hingewiesen. ?So ist sichergestellt, dass Ratsuchende die Angebote auch wirklich nutzen?, h?lt Werner Wegscheider fest.
So wie im Fall von Markus T. Nach einigen Beratungsgespr?chen willigt er ein, die Situation gemeinsam mit der ganzen Forschungsgruppe zu kl?ren. In den Gespr?chen ist das ganze Team gefordert. Sie führen aber schliesslich dazu, dass Missverst?ndnisse gekl?rt werden und sich das Teamklima deutlich verbessert.
Ein Reglement garantiert zwar noch keine L?sung. ?Doch Betroffene wie Markus T. und auch alle weiteren Beteiligten haben jetzt die Sicherheit, dass es konkrete Angebote und Wege gibt, die zu einer Deeskalation führen k?nnen?, sagt HR-?Chef Lukas Vonesch. ?Ich denke, bereits dieses Wissen tr?gt dazu bei, dass der Faden nicht immer reissen muss.?
* Name und Situation sind fiktiv.
Dieser Text erschien in der Mitarbeiterzeitschrift "life" 3/20 ab Seite 11.