Was passiert, wenn St?dte ihren Strassenraum in erster Linie auf den Bedarf beim Radfahren und E-Biken ausrichten? Auf einer neuen, popul?rwissenschaftlichen Website zeigen ETH-Forschende an Beispielen aus der Stadt Zürich, wie eine solche E-Bike-City dereinst aussehen k?nnte.
- Vorlesen
- Anzahl der Kommentare
In Kürze
- E-Bike-City ist eine Vision, wie St?dte aussehen k?nnten, wenn sie die H?lfte ihres Strassenraums für Fussg?nger:innen, Radfahrer:innen und E-Biker:innen bereitstellen.
- Das Forschungsprojekt untersucht, wie tragf?hig die Prinzipien der E-Bike-City sind, und welche Voraussetzungen für einen m?glichen Umbau n?tig sind.
- Heute sind über 80 Prozent des st?dtischen Strassenraums für Autos und Parkpl?tze reserviert. Allein in Zürich liessen sich laut den ETH-Forschenden 37 Prozent der Strassen für die Radfahrspuren, Gehwege und Grünfl?chen umnutzen.
Wie s?he der Strassenraum aus, wenn eine Stadt die H?lfte ihrer Verkehrsfl?chen fürs Radfahren und E-Biken zur Verfügung stellte? Benutzten St?dter:innen dann h?ufiger ihr Rad? W?re die E-Bike-City gar ein Ansatz, um die verkehrsbedingten CO2-Emissionen zu senken?
Diese Fragen untersuchen neun Professuren der ETH Zürich und der EPF Lausanne seit gut anderthalb Jahren. Den Lead dieser Forschungsinitiative hat der Verkehrsforscher Kay Axhausen, der im Januar 2024 emeritiert wird. Jetzt liegen die ersten Erkenntnisse vor, und die Forschenden haben ihre L?sungsans?tze anschaulich mit Visualisierungen aufbereitet und diese Woche auf einer externe Seite Storymap-Website ver?ffentlicht. Mittels Storymapping l?sst sich die Vision der E-Bike-City leicht verst?ndlich als Geschichte in Text und Bild nachvollziehen.
Die E-Bike-City-Vision sieht vor, dass die Menschen künftig die H?lfte des st?dtischen Strassenraums nutzen k?nnen, wenn sie zu Fuss unterwegs sind oder per Fahrrad, E-Bike, Lastenrad, E-Scooter oder mit anderen Kleinverkehrsmitteln (sog. Mikromobilit?t). Heute sind über 80 Prozent des st?dtischen Strassenraums für Autos und Parkpl?tze reserviert. Nur rund 11,7 Prozent sind für E-Bikes und Fahrr?der vorgesehen. Zumeist teilen sich Radfahrende und E-Biker:innen die Strassen mit den Autos.
Mehr Raum für die Menschen statt für die Autos
Im Unterschied dazu w?ren die Fahrspuren für Autos, ?ffentlichen Verkehr (Trams, Busse), Zweir?der (Velos, E-Bikes) sowie die Gehwege für Fussg?nger:innen in der E-Bike-City grunds?tzlich voneinander getrennt. Dafür müsste kein zus?tzlicher Strassenraum neu gebaut werden, sondern der bestehende würde umgebaut. Das innerst?dtische Autostrassennetz bestünde in der E-Bike-City weitestgehend aus einspurigen Einbahnstrassen. Die Fahrspuren für die R?der und E-Bikes bef?nden sich in der Regel links und rechts der Einbahnstrasse. Der ?ffentliche Verkehr wiederum führe weiter auf den bestehenden, separaten Fahrspuren. ?Eine derartige Neugestaltung g?be den Menschen mehr Raum zurück?, sagt Kay Axhausen.
Um die Neuerungen der E-Bike-City so realistisch wie m?glich darzustellen, haben die Forschenden drei typische Beispiele aus der Stadt Zürich ausgew?hlt: Das Bellevue und die Quaibrücke beim Zürichsee, die Birchstrasse in Zürich-Nord und die Winterthurer-/Letzistrasse in Zürich-Oberstrass. An diesen Beispielen zeigen sie, wie anders ein Strassenraum auss?he, wenn er rad- statt autofreundlich gestaltet w?re. Mit einem Bildschieberegler lassen sich der heutige Strassenraum und der m?gliche zukünftige Zustand direkt miteinander vergleichen.
Der Entwurf der E-Bike-City folgt bestimmten Gestaltungsprinzipien: Ausgehend vom bestehenden Strassennetz wird jeweils die eine H?lfte jeder Strasse zu einer sicheren und komfortablen Fahrradstrasse umgebaut, die mit dem Rad, Elektrorad, Lastenrad, Elektrotretroller etc. befahren wird. Die andere H?lfte der Strasse dient nach wie vor den Autos (Benzin oder Batterie), sodass die Zufahrt zu Wohn- und Bürogeb?uden gew?hrleistet ist.
In vier Schritten zum E-Bike-freundlichen Bellevue
Auf ihrer Storymap-Website zeigen die ETH-Forschenden am Beispiel des Zürcher Bellevues und der Quaibrücke, wie sich die E-Bike-City-Prinzipien in vier Schritten realisieren liessen:
- Schritt: Der ?ffentliche Verkehr, der die Quaibrücke heute auf einer Fahrspur in der Mitte überquert, beh?lt seinen Vorrang. Die meisten Tramgleise und Busspuren bleiben unver?ndert. Dort, wo keine separaten Tram- und Busspuren m?glich sind, sorgen gemeinsame Fahrspuren mit den Autos für ein durchg?ngiges ?V-Stadtnetz.
- Schritt: Das Strassennetz der Autos erschliesst jedes Geb?ude, sodass alle wichtigen Zufahrten (z.B. Handwerker:innen, Menschen mit Mobilit?ts- oder K?rperbehinderungen), Notdienste (Krankenwagen, Feuerwehr, Polizei) und Lieferungen m?glich sind.
- Schritt: Der verbleibende Strassenraum wird für die Mikromobilit?t genutzt sowie für breitere Fusswege und neue Grünfl?chen. 37 Prozent der heutigen Strassen in Zürich liessen sich laut den ETH-Forschenden für die Mikromobilit?t, Gehwege und Grünfl?chen umnutzen.
- Schritt: Je mehr St?dter:innen sich in der Folge für ein autofreies Leben entschieden, umso mehr Parkpl?tze liessen sich nach und nach zu Fahrradabstellpl?tzen, Grünanlagen, Spielpl?tzen umbauen. Ein ausreichendes Angebot an Ladezonen und Kurzzeitparkpl?tzen sicherte die Zufahrten für Notfall-, Liefer- und Transportfahrzeuge.
Dynamische Strassennutzung gegen Staus
Neben diesen Schlüsselmassnahmen untersuchen die ETH- und EPFL-Forschenden weitere Begleitmassnahmen. Zum Beispiel k?nnte die Umstellung auf ein st?dtisches Einbahnstrassennetz die Autos stauen. Diese Stau-Wahrscheinlichkeit liesse sich mit einer dynamischen Strassennutzung senken. Dabei würde je nach Tageszeit mittels Lichtsignalen gesteuert, in welcher Richtung die Autos und Fahrr?der jeweils die Strasse benutzten und wie viele Fahrspuren sie nutzen k?nnten. Auch die Akzeptanz der E-Bike-City wird untersucht. Zum Beispiel k?nnten sich Autofahrende benachteiligt sehen, wenn der Radverkehr bevorzugt gef?rdert wird. ?Im Forschungsprojekt überprüfen wir, wie tragf?hig und kostendeckend die Grundannahme und die Prinzipien der E-Bike-City sind, und welche Voraussetzungen für einen m?glichen Umbau n?tig sind?, sagt Kay Axhausen.
Zum Abschied so nahe bei der Politik wie noch nie
Für Kay Axhausen markiert das E-Bike-City-Projekt zugleich das Ende seiner Laufbahn als Professor für Verkehrsplanung an der ETH Zürich, auch wenn er dieses Projekt über seine Emeritierung hinaus betreuen wird. 1999 wurde er an die ETH berufen. Seinen Ruf erwarb er sich als Forscher, der Verkehrsfragen mit scharfem analytischen Blick sowie mit pr?zisen, ?konomischen und mathematischen Modellen auf den Grund geht.
Namentlich das Transportsimulationssystem MATSim, das er mit seiner Forschungsgruppe in den vergangenen 20 Jahren mitentwickelte, hat, wie Axhausen sagt, ?eine grosse, durchschlagende Wirkung erreicht.? Heute kann MATSim zahlreiche Aspekte des Verkehrsverhaltens simulieren. ?Die gr?sste Anwendung, die wir derzeit in vernünftiger Rechenzeit simulieren k?nnen, umfasst ganz Deutschland, also die Verkehrsentscheidungen von 85 bis 90 Millionen Menschen.?
?Unsere Vision ist es, dass die Stadt der Zukunft bequemer, leiser, grüner und gesünder wird als heute.?Kay Axhausen
Fragen der Verkehrsplanung sind nie ausschliesslich wissenschaftlicher Natur, da ihre Umsetzung letzten Endes immer eine politische Entscheidung erfordert. MATSim und E-Bike-City stehen in dieser Hinsicht sinnbildlich für zwei Haltungen, wie der Forscher mit der N?he zur Politik umgehen kann. MATSim und die Modellierung des Verkehrsverhaltens verdeutlichen das Selbstverst?ndnis des Grundlagenforschers, der die Verkehrspolitik im Hintergrund unterstützt. E-Bike-City auf der anderen Seite steht für die Hinwendung zu Politik und Gesellschaft, bei der der Forscher neue Ideen für die politische Debatte entwickelt sowie L?sungsans?tze und Handlungsoptionen aufzeigt.
Zielkonflikte von Verkehrs- und Klimapolitik überbrücken
?Als Forscher habe ich mich bislang nie direkt in die verkehrspolitische Debatten eingebracht?, sagt Axhausen, ?mit dem E-Bike-City-Projekt ist das anders, da bringen wir uns tats?chlich aktiver in die Verkehrspolitik ein.? Zum Beispiel wurden die Storymap-Website und die Erkenntnisse der E-Bike-City diese Woche Simone Brander vorgestellt, die im Zürcher Stadtrat für den Verkehr zust?ndig ist. Dieses Engagement hat sehr viel mit dem Klimawandel zu tun, der viele Verkehrsprobleme wie das klassische Stau-Problem überschattet, und neue L?sungsans?tze erfordert.
?Mit Blick auf die Erderw?rmung k?nnen wir in der Verkehrsplanung nicht wie bisher weitermachen. Wir brauchen neue verkehrspolitische Ideen für die St?dte. Die E-Bike-City ist auch ein Modell, wie der Verkehr seine Treibhausgasemissionen reduzieren kann?, sagt Axhausen, ?die E-Bike-City soll zeigen, dass Fahrrad und E-Bike als Standardverkehrsmittel in der Stadt dienen k?nnen. Unsere Vision ist es, dass die Stadt bequemer, leiser, grüner und gesünder wird als heute.?
Kolloquium und Vorlesung zur Emeritierung von Kay Axhausen
Kay W. Axhausen (*1958), zurzeit ordentlicher Professor für Verkehrsplanung am Departement Bau, Umwelt und Geomatik, wird Ende Januar 2024 emeritiert.
Die Abschiedsvorlesung von Kay Axhausen zum Thema ?Visions and dilemmas? findet am 7. Dezember 2023, 17:15-?18:30 Uhr, im Audimax der ETH Zürich statt. Weitere Information.
Sie ist Teil des dreit?gigen Kolloquiums des Netzwerks Stadt und Landschaft ?Transport Planning – Where do we go now?? vom 6. bis 8. Dezember 2023. Weitere Information und Anmeldung.
Weitere Informationen
- externe Seite E-BIKE-CITY. Vorankommen in modernen St?dten – Neu gedacht
- E-Bike-City, Projektwebsite
- MATSim (Multi Agent Transport Simulation)